
Die Applausordnung im Bundestag ist streng genommen keine, denn natürlich darf jeder jeden beklatschen, über alle Parteigrenzen hinweg. Faktisch aber applaudieren die Fraktionen regelmäßig ihren eigenen Rednern am enthusiastischsten; für die Regierung regt die Opposition nicht ganz so beflissen die Hände - und umgekehrt.
Am Freitag aber, die Rednerliste für die Grundrentendebatte war gerade zur Hälfte abgearbeitet, erntete der Rentenexperte der Grünen, Markus Kurth, für seine Rede freundlichen Applaus von der Regierungsbank. Bundessozialminister Hubertus Heil (SPD) klatschte und nickte und war sichtlich erheitert. Allerdings nicht wegen Kurths Ausführungen zur Grundrente. Sondern weil der Oppositionspolitiker gerade verkündet hatte, wie sehr er dem Termin mit seiner Friseurin am Nachmittag entgegenfiebere.
Doch während das mit der Corona-Frisur ein Wir-Gefühl auslöste, schließlich sind die haarigen Zeiten der vergangenen Monate auch für Berufspolitiker eine Art Gemeinschaftserlebnis, kann man das über die Grundrente nicht sagen. Die SPD verteidigt sie eisern, in der Union murren manche immer noch, und die Opposition ist ohnehin unzufrieden - wenn auch aus komplett unterschiedlichen Gründen.
Der CDU-Wirtschaftsflügel stellt Heils Finanzkonzept auch wegen Corona infrage
Der Weg von Heils erstem Konzept im Februar 2019 bis hin zur ersten Lesung am Freitag war, gelinde gesagt, schwierig. Die Rentenaufstockung für langjährige Niedrigverdiener gefährdete zwischenzeitlich den Fortbestand der Koalition und erzeugte konstant schlechte Stimmung. "Wir sind sehr weit gekommen", sagte Heil denn auch in seiner Bundestagsrede, und vermutlich hat es sich für ihn bisweilen wie ein ziemlich weiter Fußmarsch mit schwerem Gepäck angefühlt.
Sein Plan ist, dass vom kommenden Jahr an jeder, der mindestens 33 Jahre lang in die Rentenversicherung eingezahlt, Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt hat und trotzdem nur auf eine unterdurchschnittliche Rente kommt, Anspruch auf eine Aufwertung seiner gesammelten Rentenpunkte hat. Im Extremfall kann sich die Rente verdoppeln. Eigenes Einkommen und das des Partners werden zum Teil angerechnet; uneingeschränkt Anspruch hat nur, wer eine bestimmte Einkommensgrenze nicht überschreitet. Das Sozialministerium rechnet mit 1,3 Millionen Grundrentnern und 1,3 Milliarden Euro Kosten. Im Jahr.
Womit ein entscheidender Punkt in der Debatte schon berührt wäre: "Deutschland kann es sich nicht leisten, die Grundrente zum 1. Januar nicht einzuführen", sagte Heil im Bundestag. Die Grundrentenkritiker in der Union aber, die es immer noch gibt, sehen es genau anders herum. Auch wegen Corona stellt etwa der CDU-Wirtschaftsflügel Heils Finanzkonzept mehr denn je infrage. Denn die Grundrente soll aus dem Bundeshaushalt finanziert werden, der aber wegen der milliardenschweren Pandemie-Hilfen derzeit vor allem aus vielen großen Löchern besteht. Die europäische Finanztransaktionsteuer wiederum, die Finanzminister Olaf Scholz (SPD) zur Mitfinanzierung versprochen hat, gibt es nach wie vor nicht.
Unionsfraktionsvize Hermann Gröhe (CDU) gab sich zwar vertragstreu und nannte es ein gemeinsames Anliegen, dass die Menschen, die Heil zuvor als Alltagshelden bezeichnet hatte, eine bessere Rente bekämen. Er sagte aber auch, dass "wünschenswerte Verbesserungen" sich an ihrer Finanzierbarkeit orientieren müssten und dass das Rentensystem vor großen demografischen Herausforderungen stehe. Und er wünschte dem Finanzminister "viel Erfolg" in Sachen Finanztransaktionsteuer, deren Einnahmen hätte er schließlich "in Aussicht gestellt".
Die Linke kritisiert vor allem die vorgesehene Einkommensprüfung
Weniger gut weg kam die Grundrente, wenig überraschend, bei der Opposition. Der Linken-Abgeordnete Matthias Birkwald etwa sprach konsequent von der "sogenannten Grundrente", weil der gefundene Regierungskompromiss den Pflegerinnen, Friseurinnen, Floristinnen und Taxifahrern mehr vorgaukele, als er halten könne. So lala sei der Entwurf nur noch, und schuld daran sei die Union - die hatte unter anderem eine Einkommensprüfung durchgesetzt.
Noch weniger als so lala fand der Rentenexperte der FDP, Johannes Vogel, den Entwurf. Drei Viertel der 500 000 Rentner in der Grundsicherung kämen nicht auf die notwendigen Beitragsjahre für die Grundrente, dafür seien 90 Prozent der künftigen Grundrentner nicht auf Grundsicherung im Alter angewiesen. "Wenn das nicht krass an den Bedürfnissen vorbeigeht, dann weiß ich es nicht", sagte Vogel. Dann zitierte er noch aus der legendär kritischen Stellungnahme der Rentenversicherung zur Grundrente und übersetzte: "Das ist vornehmes Verwaltungsdeutsch für: Ihr macht kompletten Mist. Und deshalb: Kehrt um!"
Minister Heil aber denkt gar nicht daran. Am Freitag lächelte er die Kritik kopfschüttelnd weg. Und auch wenn Reisen schwierig geworden ist: Sein nächstes Etappenziel ist die zweite und dritte Lesung.