Grundrechte:Demos mit Distanz

Dürfen Bürgerrechtler gegen das Verbot von Kundgebungen auf die Straßen gehen - trotz der Kontaktbeschränkungen? Gerichte urteilen immer öfter: Ja, das muss gehen - wenn einige Bedingungen eingehalten werden.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Demonstration für die Schließung einer Flüchtlingsunterkunft

So demonstriert man heute: Kundgebung von Flüchtlingshilfsvereinen in Bremen - mit weitem Abstand.

(Foto: Sina Schuldt/dpa)

Es wird wieder demonstriert in Deutschland. Auf dem Münchner Marienplatz fand an diesem Freitag eine Kundgebung statt - mit einem überschaubaren Kreis von zwölf Teilnehmern. Der Protest warnte vor überbordendem Aktionismus im Kampf gegen das Virus: Demokratische Grundsätze dürften nicht hinter wirtschaftlichen Interessen zurückstehen. Der Verwaltungsgerichtshof München hatte den Veranstaltern von ÖDP und "Mehr Demokratie" in letzter Minute seine Genehmigung gegeben.

Einen Tag zuvor waren in Bremen Flüchtlingsvereine vom Hauptbahnhof zum Rathaus gezogen - mit 200 Teilnehmern, aufgeteilt in vier Blöcke, meldet Radio Bremen. Ihr Protest hatte ebenfalls mit Corona zu tun, er galt den Zuständen in einer Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge, wo es mehr als 30 Infektionen mit dem Coronavirus gegeben haben soll. Derweil hat das Verwaltungsgericht Hannover eine für diesen Samstag in Hildesheim geplanten Kundgebung erlaubt, auch dort soll es um die Folgen der Pandemie gehen. Motto: "Wer Freiheit aufgibt, um mehr Sicherheit zu erlangen, wird am Ende beides verlieren." Die Stadt hatte ein Verbot ausgesprochen, weil die Versammlung nun mal gegen die Einschränkungen für öffentliche Zusammenkünfte verstoße. Aber das Verwaltungsgericht belehrte die Stadt eines Besseren. Abstandsregeln, Mundschutzpflicht, Teilnehmerbegrenzung, all dies sei in Ordnung. Aber ein generelles Versammlungsverbot sei mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.

Den Startschuss für die Wiederkehr des Straßenprotests hatte am Donnerstag das Bundesverfassungsgericht gegeben. Dort ging es um eine Veranstaltung unter dem Leitspruch "Gesundheit stärken statt Grundrechte schwächen - Schutz vor Viren, nicht vor Menschen". Die Veranstalter hatten sich durchaus gesundheitsbewusst gezeigt, sie hatten sorgfältig große Sicherheitsabstände für die erwarteten 30 Teilnehmer eingeplant, Ordner sollten sie auf markierte Startpositionen lotsen. Die Stadt Gießen fand zunächst, die hessische Verordnung lasse ihr überhaupt keinen Spielraum, weil dort jede Zusammenballung von mehr als zwei Menschen untersagt sei, egal zu welchem Zweck. Irrtum, befand Karlsruhe, kassierte das Verbot und schickte es zur neuen Entscheidung an die Stadt zurück; inzwischen hat Gießen die Kundgebung erlaubt.

Die Auflagen der Karlsruher Richter gewährleisten Sicherheit und Grundrechte

Bemerkenswert an dem Karlsruher Beschluss ist folgende Klarstellung: Die hessische Corona-Verordnung "enthält jedenfalls kein generelles Verbot von Versammlungen unter freiem Himmel für mehr als zwei nicht dem gleichen Hausstand angehörige Personen". Liest man in Paragraf 1 der Verordnung nach, dann klingt der Wortlaut allerdings durchaus nach einem generellen Verbot. "Aufenthalte im öffentlichen Raum sind nur alleine, mit einer weiteren nicht im eigenen Haushalt lebenden Person oder im Kreise der Angehörigen des eigenen Hausstandes gestattet", heißt es dort. Und unter den Ausnahmen finden sich zwar berufliche Gründe oder Kinderbetreuung, doch von Demos steht dort nichts. Aber natürlich scheint auch über der hessischen Corona-Verordnung - und über den Regelwerken aller anderen Länder - die Sonne von Artikel 8 Grundgesetz, der die Versammlungsfreiheit garantiert. Die Richter lesen in diesem Licht also in die Anti-Corona-Paragrafen hinein, was eigentlich nicht drinsteht: dass es einen Spielraum für die Zulassung öffentlicher Kundgebungen geben muss, solange sich der Infektionsschutz durch bestimmte Auflagen garantieren lässt.

Insofern gilt das Signal aus Karlsruhe bundesweit; Massenaufzüge hätten danach derzeit wohl keine Chance, aber infektionstechnisch sorgsam kontrollierte Demonstrationen schon. Demo-Erlaubnis unter Auflagen, das war schon immer das Karlsruher Rezept, um Sicherheit und Grundrecht unter einen Hut zu bekommen. In der Politik werden erste Stimmen laut, den Wind aus Karlsruhe aufzunehmen. Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen (CDU) hat bereits eine Lockerung in Aussicht gestellt.

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