Süddeutsche Zeitung

Verfassungskonvent 1948:Die Vatertage von Herrenchiemsee

33 Männer legten auf der idyllischen Insel im Chiemsee die Basis für die deutsche Demokratie. Mit dabei: NS-Täter, ein KZ-Überlebender - und ein Experte, der kein deutscher Staatsbürger war.

Von Xaver Bitz und Oliver Das Gupta, Herreninsel

"Bis hier hin!", genau das schärfte die Frau des Verwalters ihm ein, wenn er auf seinem Dreirad den Gang rauf- und runterratterte, "bis hier hin!" Friedrich von Daumiller zeigt auf die Stelle des rötlichen Steinbodens, die für ihn damals eine Vollbremsung bedeutete. Von dort gehen zwei Türen ab. Die linke öffnet sich zur damaligen Wohnung des Verwalters der Herreninsel und seiner Frau.

Die rechte Tür führt zum Eckzimmer "Nummer 7". Einst speiste hier König Ludwig II., wenn er auf der Insel weilte. Nun wurde am 10. August 1948 in dem holzvertäfelten quadratischen Raum der Verfassungskonvent eröffnet, der den Entwurf für das Grundgesetz ausarbeitete. Bis zum 23. August, in nur zwei Wochen also, erschufen 33 Sachverständige ein Dokument, das in wesentlichen Teilen bis heute gilt. So avancierte das ehemalige Augustiner-Kloster vor 70 Jahren zu einem der bedeutendsten Orte der deutschen Demokratie.

Pro Tag für jeden Teilnehmer: Drei Zigarren, eine halbe Flasche Wein

Daumiller, der während des Konvents knapp fünf Jahre alte Dreiradfahrer, wurde später selbst Jurist; Notar in Prien am Chiemsee. Er ist einer der profiliertesten Kenner der Konventsgeschichte. Seine Kindheitserinnerungen an die Konventszeit verschwimmen, sagt er.

Als Erwachsener aber hat der Ende August 75 Jahre alt werdende Mann eingehend recherchiert, wer die wichtigen Akteure waren, über Kuriosa - und warum die Stimmung der zusammengewürfelten Gruppe so gut war.

Die Herreninsel ist vor allem bekannt für das unvollendete Prunkschloss des Königs Ludwig, für das Jahr für Jahr Hunderttausende vom Festland übersetzen. Weniger Besucher zieht das frühere Chorherrenstift an, das "Alte Schloss". Das 1803 aufgehobene Kloster, in dem auch der Bischof von Chiemsee seinen Sitz hatte, wurde im Sommer vor 70 Jahren kurzfristig Schauplatz des Verfassungskonvents.

Damals, drei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, vereinbarten die USA, Großbritannien und Frankreich die Gründung eines Staates in ihren Besatzungszonen. Dort hatten sich Länder gebildet. Und so wiesen Anfang Juli 1948 die drei Westmächte in den "Frankfurter Dokumenten" die Landesregierungen an, bis zum 1. September eine verfassungsgebende Versammlung einzuberufen. Sie machten Vorgaben: Ein demokratischer, föderalistischer Staat mit einer "angemessenen Zentralinstanz" wurde gefordert. Außerdem sollten "Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten" enthalten sein.

Die Vorarbeit sollte ein Expertenausschuss leisten - der Verfassungskonvent. Dass er auf Herrenchiemsee tagte, lag an der einladenden bayerischen Staatsregierung. Die Insel war im Krieg verschont geblieben und leicht abzuschirmen.

Die Vorarbeiten zum Grundgesetz

Der Entwurf für das Grundgesetz entstand vom 10. bis 23. August 1948 unter dem Eindruck der Katastrophe, die die Nazis über Europa gebracht hatten. Nie wieder sollte der Mensch so ohnmächtig gegenüber dem Staat sein. Schnell verständigte sich der Konvent auf einen Katalog von Grundrechten. Ins Zentrum rückte er die Garantie der Menschenwürde, sie wurde auf Herrenchiemsee zum ideellen Ausgangspunkt aller übrigen Grundrechte. Auch darüber hinaus leisteten die Chiemseer Verfassungsväter grundlegende Vorarbeit: So entstand bereits bei ihnen das Konstruktive Misstrauensvotum, um zu verhindern, dass Regierungen weiter so instabil sind wie in Weimar. Der Sozialdemokrat Carlo Schmid setzte zudem den provisorischen Charakter des Grundgesetzes durch. So sollte die Möglichkeit einer Wiedervereinigung mit Ostdeutschland offengehalten werden. Vom 1. September an setzte der Parlamentarische Rat in Bonn die Arbeit des Verfassungskonvents fort. SZ

Die bayerische Delegation war die einzige, die zu Beginn des Konvents einen eigenen Entwurf präsentierte. Vereinbart war, dass jedes der elf westdeutschen Länder maximal drei Vertreter nach Herrenchiemsee schickte.

Aber die gastgebenden Bayern stockten ihr Kontingent geradezu unverschämt auf: Sie rückten zu siebt an. Etwa 80 Personen kamen damals auf die Insel. Die Delegierten und Experten durften von ihren Ehefrauen begleitet werden, einige brachten ihre Kinder mit. Dazu kamen Sekretärinnen und ein paar Journalisten, darunter der spätere SZ-Chefreporter Hans Ulrich Kempski. Für alle anderen war die Insel abgesperrt.

Die Bayern stockten ihr Kontingent geradezu unverschämt auf

Nur Männer nahmen am Konvent teil, viele kannten einander noch nicht und hatten sehr unterschiedliche Lebensläufe: Anton Pfeiffer, Chef der bayerischen Staatskanzlei, dominierte als Leiter die Versammlung.

Dem Historiker Manfred Treml zufolge plante der CSU-Mann nicht nur die Abläufe, sondern pflegte dank seiner vorzüglichen Sprachkenntnisse in Englisch und Französisch zugleich beste Kontakte zu den Alliierten. Der Sozialdemokrat Hermann Louis Brill aus Hessen hatte gegen das Hitler-Regime gekämpft, er überlebte das KZ Buchenwald.

Der Jura-Professor Hans Nawiasky, ein gebürtiger Österreicher, war als Nazi-Gegner und Sohn jüdischer Großeltern väterlicherseits verfolgt worden und nach St. Gallen emigriert. Wie SZ-Recherchen nun ergaben, war Nawiasky nicht deutscher Staatsbürger, sondern Schweizer, als er das Grundgesetz mit entwarf.

Mit am Tisch saßen auch Männer mit NS-Vergangenheit wie der Niedersachse Justus Danckwerts. Über ihn wurde später bekannt, dass er als Abteilungsleiter der Militärverwaltung an mindestens einer Sitzung teilgenommen hatte, in der ein Massaker an 11 000 Juden verabredet wurde.

Gustav von Schmoller, der auf Herrenchiemsee Carlo Schmid begleitete, hatte während des Zweiten Weltkriegs einen besonders berüchtigten Chef: Schmoller war, wie 1967 publik wurde, im von Nazi-Deutschland besetztem "Böhmen und Mähren" Mitarbeiter des stellvertretenden Reichsprotektors Reinhard Heydrich, eines der Hauptverantwortlichen für den Holocaust.

Theodor Maunz, Juraprofessor unter den Nazis, wurde später für die CSU bayerischer Kultusminister. Später, in den neunziger Jahren, kam heraus, dass er bis zu seinem Tod anonym Texte für eine rechtsextreme Zeitung verfasste.

Während des Konvents war die persönliche Vergangenheit kein Thema. Die Stimmung unter den Teilnehmern wird als gemütlich und familiär überliefert. Daumiller meint, die gute Versorgung sei ein entscheidender Faktor für die positive Atmosphäre gewesen. Pro Tag hatte jeder Teilnehmer Anrecht auf drei Zigarren oder zwölf Zigaretten, dazu eine halbe Flasche Wein oder einen Liter Bier - drei Jahre nach dem Krieg war das sehr üppig. Gearbeitet wurde von morgens bis teilweise in die Nacht.

Die drei Ausschüsse tagten über die Insel verstreut, die Teilnehmer berieten sich auf Spaziergängen, im Biergarten oder auf der Holzbank eines hinter dem Chorherrenstift gelegenen Bauernhofs. Bei Regen - es war ein durchwachsener Sommer - setzte man sich zusammen auf die Veranda des Schlosshotels mit Blick auf die Fraueninsel nebenan.

Für die Sicherheit sorgten lediglich zwei bis drei Polizisten. Susanne Suhr, die Frau des Berliner Vertreters Otto Suhr, war gleichzeitig als Journalistin für eine SPD-nahe Zeitung tätig. Und die Zigarren, die den Teilnehmern geschenkt wurden, stammten offenbar aus dem sogenannten Hitler-Rasthaus am südlichen Chiemseeufer. In der größten Autobahnraststätte der Nazizeit erholten sich bis 1945 verletzte Soldaten. Nach Kriegsende bediente sich das Volk in den Vorratskammern.

Daran erinnert sich auch noch der heute 90 Jahre alte Fischer Holmer Lex, zeitweise Bürgermeister der Fraueninsel. Er sagt, dass die Nazis in der Raststätte fünf Millionen Zigaretten lagerten: "Die wurden nach dem Krieg an die Einheimischen verteilt, und ein Teil landete auch bei den damaligen Pächtern des Schlosshotels."

Adenauer und Schumacher waren skeptisch

Am Konvent hatten die Einheimischen indes wenig Interesse. "Es stand zwar etwas in der Zeitung, und Carlo Schmid war als führender Mann bekannt, doch uns ging das Ganze nicht wirklich etwas an."

Gut eine Woche nach Ende des Konvents nahm am 1. September in Bonn der Parlamentarische Rat seine Arbeit auf, an dem neben Anton Pfeiffer und Carlo Schmid noch vier weitere "Chiemseer" teilnahmen. In diesem Gremium stießen die 149 Artikel der Experten vom Chiemsee bei mächtigen Parteipolitikern wie Konrad Adenauer (CDU) und Kurt Schumacher (SPD) auf Skepsis. Am Ende wurden jedoch wesentliche Teile des Chiemseer Entwurfs übernommen. Die Grundrechte sind fast identisch formuliert.

Der Satz "Die Würde der menschlichen Persönlichkeit ist unantastbar", mit dem - nur leicht abgewandelt - Artikel 1 der bundesdeutschen Verfassung beginnt, wurde auf der oberbayerischen Insel formuliert. Von der "Würde der menschlichen Persönlichkeit" war damals schon in Artikel 100 in der bayerischen Landesverfassung von 1946 die Rede.

Nawiasky schrieb an dem weißblauen Grundgesetz übrigens auch schon mageblich mit, gemeinsam mit dem Sozialdemokraten Wilhelm Hoegner.

Für Friedrich von Daumiller ist eine zentrale Leistung des Herrenchiemsee-Konvents, dass die Grundrechte ins Zentrum der Verfassung gerückt wurden - und die Menschenwürde gleich an den Anfang. Daumiller sagt: "Das wurde schon während der Französischen Revolution 1789 gefordert, aber nie umgesetzt - bis zum Sommer 1948." Die Bedeutung des Konvents wird seiner Meinung nach zu wenig gewürdigt.

Immerhin, im Chorherrenstift erinnert eine Ausstellung an den Entstehungsort des Grundgesetzes, das Eckzimmer Nummer 7 kann besichtigt werden. In den Jahren nach dem Konvent hatte der Raum wahrscheinlich wieder seine frühere Funktion, sagt Daumiller: "Es war wohl ein Gästezimmer."

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Quelle:
SZ vom 18.08.2018/odg/bepe
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