Die Deutschen neigen nicht dazu, um ihre in aller Welt geschätzte Verfassung viel Wind zu machen. Sie ist nun einmal da, schön, dass es sie gibt; ein wenig irritierend ist es vielleicht, dass sie Grundgesetz heißt. Beruhigend, dass dennoch das Bundesverfassungsgericht über seine Einhaltung wacht. Aber dass man das Grundgesetz mit ein wenig geliehenem französischem Pomp oder gar amerikanischem Pathos alljährlich am 23. Mai rauschend feiern würde, zum Gedenken an jenen Tag im Jahr 1949, als die Konstitution des künftigen westdeutschen Teilstaates verkündet wurde - nein, so ist es nicht. Dabei ist sie für andere Länder vielfach Inspiration und Vorbild gewesen.
Jetzt, da das Grundgesetz demnächst 75 Jahre alt wird, kann man zunächst einmal die sehr gute Idee der Journalistin und Politologin Sabine Böhne-Di Leo loben, die ausgedehnte Beratungsarbeit des Parlamentarischen Rates und deren Ergebnis genauer zu betrachten. Dieser Versammlung verdankt sich zwar nicht die titelgebende "Erfindung der Bundesrepublik" in der Art eines Heureka-Moments, sehr wohl aber die mühselige Ausarbeitung der erst einmal nur provisorisch gemeinten Verfassung (die deswegen nicht so heißen sollte). Es waren die Bemühungen von nur vier Frauen und deutlich mehr, nämlich 61 Männern in diesem Allparteien-Konklave, das 1948/49 in Bonn zusammenkam und schließlich das Grundgesetz verabschiedete. Dazu musste es erst einmal geschrieben werden, was man heute, also mit einigem Abstand schulterzuckend sehen könnte: klar - na und?
Die Westalliierten hatten sehr unterschiedliche Vorstellungen
Aber im September 1948, als der Parlamentarische Rat (den die Autorin etwas irritierend konstant "Bonner Runde" nennt, so hieß in alter Zeit die TV-Sendung am Abend der Bundestagswahl) zum ersten Mal zusammentrat, war noch ziemlich wenig klar im spöttisch "Trizonesien" genannten Westteil Deutschlands. Sollte ein zentraler oder aber ein föderaler Staat entstehen, wie er den USA vorschwebte, oder allenfalls ein sehr schwacher, wie die Franzosen es wünschten, die innerhalb von 30 Jahren zweimal von ihrem kriegerischen Nachbarn überfallen worden waren? Die Deutschen selbst waren auch nicht einer Meinung: Die neu gegründete CDU war föderal gestimmt, die SPD drängte eher auf einen Einheitsstaat, alle Ministerpräsidenten der westdeutschen Länder jedoch wandten sich in ihren "Koblenzer Beschlüssen" vom 10. Juli 1948 gegen einen nur westdeutschen Staat, um nicht die Teilung Deutschlands festzuschreiben.
Zu diesem Zeitpunkt waren die drei westlichen Sektoren Berlins seit mehr als zwei Wochen auf Geheiß des sowjetischen Diktators Stalin abgeriegelt, die Blockade der Stadt hatte am 24. Juni begonnen. Eine weitere gute Idee Sabine Böhne-Di Leos ist, dass sie die Geschichte der Grundgesetzwerdung - die im August 1948 mit dem Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee ihren Anfang nahm - in den historischen Rahmen der Blockade einbettet. Sie erzählt damit auch die Geschichte des sich zuspitzenden Konflikts der drei westlichen Alliierten mit ihrem vierten Verbündeten, der Sowjetunion.
Die Blockade war die Folge der Währungsreform; am 20. Juni 1948 war die Deutsche Mark in Westdeutschland eingeführt worden. Das bewog die Sowjets ihrerseits zu einer überstürzten Reform der Reichsmark auch in ihrer Zone; diese sollte darüber hinaus aber auch in allen vier Sektoren Berlins gelten. Das konnten die Westmächte nicht hinnehmen, kurzerhand erklärten sie die D-Mark auch in ihren drei Sektoren zum Zahlungsmittel: Berlin hatte zwei Währungen. Und die Sowjetunion begann über Nacht, die Land- und Wasserwege in den Westteil der Stadt zu sperren. Aber es gab noch die drei Luftkorridore nach Berlin, die Amerikaner, Briten und Franzosen zur Versorgung ihrer Einheiten nutzten.
Weltpolitik mit "Rosinenbombern"
Den Alliierten, in erster Linie den Amerikanern, blieben nur diese Korridore für die "Operation Vittles" (Operation Proviant), die am 28. Juni anlief. Bald brachten die "Rosinenbomber", wie die notorisch munteren Berliner sie tauften, jeden Tag Tausende Tonnen Lebensmittel und Getreide, Kohlen und Medikamente in die eingeschlossenen Westsektoren. Die Autorin schildert farbig das weltpolitische Drama der Blockade im Wechsel mit den Beratungen in Bonn, wo die drei westlichen Besatzungsmächte die Deutschen zu einer föderal geprägten Verfassung drängten, die bis heute Bestand hat. Der Rat einigte sich auf Grundrechte wie das auf politisches Asyl, auf die Gleichberechtigung von Männern und Frauen, auf die Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung des Bundes, insgesamt 146 Artikel.
Sabine Böhne-Di Leo schreibt vorwiegend auf Basis der Protokolle und Akten des Parlamentarischen Rates eine schlanke, gut erzählte Geschichte mit immer noch faszinierenden Figuren: etwa Louise Schroeder, die 1947/48 Oberbürgermeisterin Berlins war, dem brillanten Juristen und Redner Carlo Schmid von der SPD und seinem CDU-Antagonisten Konrad Adenauer, dem Präsidenten des Parlamentarischen Rates, auf den noch Größeres wartete. An sie und ihr Wirken zu erinnern in Zeiten, da manche den demokratischen Verfassungsstaat nicht verstehen und gering schätzen, ist auch eine Form von Verfassungspatriotismus.