Grundgesetz:Gott im Rucksack

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An der Wand einer Gerichtsaals hängt ein Kreuz. Für den Juristen Horst Dreier steht religiöse Symbolik wie diese einem säkulären Staat entgegen. (Foto: Regina Schmeken)

Der Rechtswissenschaftler Horst Dreier plädiert eindringlich für einen säkularen Staat. Mit seiner Analyse liefert der Würzburger Jurist reichhaltigen Stoff - zum Nachdenken und Streiten.

Von Rolf Lamprecht

Das muss einer wollen und können - den Anspruch eines Buches gleich am Anfang und ganz beiläufig auch noch erschöpfend zu präzisieren. Beim gerade erschienenen "Staat ohne Gott" - "keine Streitschrift, wohl aber eine streitbare Analyse" - ist dem Würzburger Rechtsprofessor Horst Dreier das Kunststück gelungen. "Staat ohne Gott", schreibt er, heiße nicht "Welt ohne Gott, auch nicht: Gesellschaft ohne Gott und schon gar nicht: Mensch ohne Gott." Wohl aber ziele "die titelgebende Wendung" auf den Umstand, dass sich der Staat in der modernen, säkularen Grundrechtsdemokratie "mit keiner bestimmten Religion oder Weltanschauung identifizieren darf".

Ein großes Wort, das an der Präambel des Grundgesetzes nicht vorbeikommt; die gelobt feierlich: Das deutsche Volk habe sich diese Verfassung "im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen" gegeben. Welcher Gott mag da 1949 gemeint gewesen sein: der "christliche" oder der "liebe", zu dem Kinder und Ungläubige beten? An Allah hat damals bestimmt noch keiner gedacht.

Meinungsfreiheit und Demokratie
:Spott über Gott

Der Kabarettist Dieter Nuhr wird angezeigt, weil er sich über den Islam lustig macht. Doch der Koran steht genauso wenig über dem Grundgesetz wie die Bibel. In einer Demokratie müssen Gläubige Spott über ihre Religion aushalten.

Kommentar von Heribert Prantl

Wie neutral kann ein Staat sein, der mit Gott im Rucksack angetreten ist? Dreiers Vademekum weckt Neugier. Er selbst ist kein unbeschriebenes Blatt. 2008 wäre er um ein Haar ins Bundesverfassungsgericht gewählt worden - auf die Planstelle des künftigen Präsidenten. Doch schnell stellte sich heraus, dass er die notwendige Zweidrittelmehrheit verfehlen würde. Den orthodoxen katholischen Flügel der Union störte seine Haltung zur Stammzellenforschung, viele Linksliberale misstrauten seinem vielfach geäußerten Bekenntnis zum Folterverbot. Der Grund: Ein Halbsatz, in dem er etwa für den Fall, dass die Menschenwürde eines Geiselnehmers und die seiner Geisel gleichzeitig auf der Waagschale liegen, den Gedanken einer "rechtfertigenden Pflichtenkollision nicht von vorneherein ausschließen" wollte.

Alles in allem: ein eigenwilliger Mann. Als solcher erweist er sich auch bei seinem Plädoyer für den "säkularen Staat". Der verhält sich, wie er meint "zur absoluten Wahrheitsfrage distanziert"; er will und kann sie nicht beantworten, "weil ihm dafür schlicht die Kompetenz fehlt". Unter Berufung auf den legendären Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde fasst Dreier zusammen: "Religionsfreiheit der Bürger und weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates sind die beiden Säulen, auf denen die Säkularität des freiheitlichen Verfassungsstaates beruht."

Die "Glaubenszähne" ziehen

In einem eigenen Kapitel "Der Präambel-Gott" stellt sich Dreier den naheliegenden kritischen Nachfragen. Er bemüht die Geschichte und verweist darauf, dass alle früheren deutschen Verfassungen ohne Gottesbezug ausgekommen sind - die von Weimar, die Bismarcks und die der Paulskirche. "Es handelte sich also um ein Novum", das auf "verschlungenen Pfaden" zustande gekommen ist - nach überwiegender Interpretation sei es nicht mehr als "eine Demutsformel". Diese wiederum liefere, zitiert Dreier den früheren Vizepräsidenten des Gerichts, Ernst Gottfried Mahrenholz, "keine verfassungskräftige Erkenntnis, dass es Gott gibt".

Der "Allmächtige" taugt kaum zur Legitimation des modernen Rechts. Gänzlich auf ihn verzichten wollen die Politiker aber auch nicht. Die Mitglieder der "Gemeinsamen Verfassungskommission", die nach der Wiedervereinigung über das weitere Schicksal des Grundgesetzes berieten, lehnten noch 1991 mit breiter Mehrheit die Streichung des Gottesbezugs ab. Sie nahmen ihrem Votum die Schärfe - durch einen treffenden und zugleich begütigenden Vorbehalt: Diese Verfassung ergehe nicht im Namen Gottes.

Gleichwohl sind die Überlieferungen des christlichen Abendlandes offenbar noch tief verwurzelt; das erklärt nicht nur die Scheu vor Veränderungen, sondern auch den widersprüchlichen Umgang des Staates mit seiner Neutralitätspflicht in Glaubensfragen. In fünf Landesverfassungen wird fast wortgleich die Ehrfurcht vor Gott als "vornehmstes Ziel" der Erziehung deklariert. Was gilt nun? Nicht nur bei diesen Passagen gibt es Fragen. Dreier ironisiert, wie Richter und Kommentatoren herumeiern: "Den einschlägigen Bestimmungen werden sozusagen ihre Glaubenszähne gezogen, indem man sie abpuffert und herunterdimmt zu allgemeinen Kulturwerten." Was allerdings die Verbindlichkeit von Texten, die schwarz auf weiß in Verfassungen stehen, nicht illusorisch macht.

Aus gutem Grund setzt sich Dreier auch mit Einwänden auseinander, die der Rechtsgelehrte und Ex-Verfassungsrichter Paul Kirchhof in die Debatte geworfen hat. Nach dessen Ansicht ist es "für den Staat wesentlich, ob die Kirchen zum Krieg oder zum Frieden auffordern", ob sie "Fanatismus oder eine Kultur des Maßes" propagieren, ob sie "die Verfassungsprinzipien von Rechtsstaat, Demokratie und Sozialstaatlichkeit zurückweisen oder aber anerkennen". Kirchhof hat da, ohne ihn zu nennen, ersichtlich den Islam und seine unübersehbaren Varianten im Auge. Und er spricht aus, was viele irritiert.

Dreier sieht den Staat bei den vielfältigen Äußerungsformen von Religionen nicht in der Pflicht. "Das hieße ja im Klartext: Je heftiger der Widerspruch Dritter ausfällt, desto geringer die Religionsfreiheit." Es gehöre aber, doziert er, zu den ehernen Prinzipien der Grundrechtsdogmatik, "die Reichweite grundrechtlicher Freiheit nicht vom Einverständnis oder Wohlwollen Dritter abhängig zu machen". Der Staat habe hier "keine Noten zu vergeben und keine buchhalterischen Bilanzen aufzumachen".

Das erscheint konsequent bis zur Selbstaufgabe. Und weckt Erinnerungen: Bei der Glaubens- und Religionsfreiheit verlaufen die Fronten offenbar wie beim Streit um die Meinungsfreiheit. Da tolerieren manche Interpreten extreme Positionen bis zur Grenze der Strafbarkeit; aus ihrer Sicht genießen Täter des Wortes eine nahezu schrankenlose Narrenfreiheit.

Eine kompromisslose Haltung, die ernüchtert. Sie lässt die Wärme vermissen, die etwa von einem Begriff wie Verfassungspatriotismus ausgeht. Wohl mit Absicht. Die Verfechter der distanzierten Position argumentieren, das Grundgesetz verzichte "auf allgemein verbindliche Sinnstiftungsansprüche". Dreier pointiert: "Das Grundgesetz ist keine Bibel, das politische Leben kein Gottesdienst, der Verfassungsexeget kein Hohepriester."

Dreiers Blick auf die Verfassung ist nüchtern. Vielleicht zu nüchtern?

Das hört sich endgültig an. Trotzdem treibt den Autor eine letzte Frage um: Worin die Ordnung des Grundgesetzes, das "ganz auf Freiheit und Offenheit setzt" eigentlich ihren Halt finden soll? Auch Dreier kennt keine "umfassende Lösung". Stattdessen verweist er auf eine "seit Langem geläufige Formel": das "Böckenförde-Diktum (dem er ein ganzes Kapitel widmet). Der große Staats- und Verfassungsrechtler hatte 1967 geschrieben: "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann." Und er folgerte: Das sei das "große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist".

Das Diktum ist mehr als ein halbes Jahrhundert alt. Da ist die Frage erlaubt: Heißt "großes Wagnis" nicht womöglich, dass es gilt, um diese Freiheit zu kämpfen? Insofern enttäuscht Dreier. Beispiel Islam. Denkbar wäre, eine Religionsgemeinschaft auf die Verfassung zu verpflichten, deren Schutz sie genießt und beansprucht; sie würde damit dreierlei akzeptieren: die Alleingeltung des deutschen Rechts, die Gleichberechtigung der Frau und die Gleichrangigkeit anderer Bekenntnisse. Doch dem Rechtsphilosophen missfällt, wenn "einer rechtlich folgenreichen Differenzierung zwischen kulturadäquaten und kultur-fremden Religionen das Wort geredet" wird.

Er resümiert: Eine freiheitliche Verfassung betrachte man am besten "ganz nüchtern als Form friedensstiftender und freiheitsgarantierender Herrschaftsrationalisierung". Wird dieser "nüchterne" Blick einer Verfassung gerecht, die sich an einem beeindruckenden Wertekanon orientiert? Der Gedanke, dass diesem langsam gewachsenen Fundus eine stabilisierende, ja "sinnstiftende" Wirkung zukommen könnte, liegt nicht fern. Aber er ist Dreier, der jede "Moralisierung und Ethisierung der Rechtsordnung" ablehnt, vermutlich zu sentimental.

Auch diese Tatsache, dass er Widerspruch provoziert, gehört zum Reiz seines Buches. Dreier füllt Wissenslücken, präsentiert ein spannendes Thema und liefert reichhaltigen Stoff - zum Nachdenken wie zum Streiten. Was will man mehr?

Rolf Lamprecht schreibt über Rechtspolitik. Er ist seit 1968 Berichterstatter an den Obersten Gerichtshöfen in Karlsruhe.

Horst Dreier: Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne. Verlag C.H. Beck München 2018. 256 Seiten, 26,95 Euro. E-Book: 21,99 Euro.

© SZ vom 19.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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