Die Verfassung feiert Geburtstag:Der Sound des Grundgesetzes

Die Verfassung feiert Geburtstag: Schlank formulierten die Schöpfer der Verfassung im Jahr 1949 - anders als heute. Die Textmenge hat sich mittlerweile verdoppelt.

Schlank formulierten die Schöpfer der Verfassung im Jahr 1949 - anders als heute. Die Textmenge hat sich mittlerweile verdoppelt.

(Foto: Tim Carmele via www.imago-images.de/imago images/Carmele/tmc-fotogra)

Der sprachliche Stil der Verfassung hat sich in den 74 Jahren ihrer Existenz gewandelt. Wo früher salbungsvoll formuliert wurde, klingen neuere Passagen zunehmend bürokratisch.

Von Ronen Steinke

Manche lieben es knapp. Zum Beispiel so: Eigentum verpflichtet. Nur zwei Wörter, so kurz ist dieser Satz des Grundgesetzes, wobei in den darauffolgenden Sätzen die Details folgen. "Was für eine großartige Formulierung", sagt der Verfassungsrechtler Alexander Thiele. Aus dieser Prägnanz entstehe sprachliche Kraft. Und er schwärmt noch für einen zweiten kurzen Satz: Männer und Frauen sind gleichberechtigt. So schlank, wie dies die Schöpfer der Verfassung im Jahr 1949 auf den Punkt brachten, formulierten Parlamente heute leider kaum mehr, bedauert Thiele, der als Professor in Berlin lehrt.

Das Grundgesetz, das an diesem Dienstag seinen 74. Geburtstag feiert, hat sich verändert. Es ist nicht mehr das Grundgesetz von 1949. Generationen von Bundestagsabgeordneten haben daran in der Zwischenzeit weitergearbeitet, haben mit Zweidrittelmehrheit immer weitere Ergänzungen eingefügt. So hat sich die Textmenge über die Jahre verdoppelt. Und die neuen Teile erkenne man oft schon am drögeren Sound, bedauert auch etwa der Würzburger Verfassungsrechtler Horst Dreier, der einst als Kandidat der SPD für das Amt des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts im Rennen war.

Vor allem ganz hinten im Grundgesetz finde man heute neu eingefügte Artikel, die so bürokratisch detailliert seien, wie es den Vätern und Müttern des Grundgesetzes 1949 nie in den Sinn gekommen wäre. Artikel 143c zum Beispiel garantiert den Bundesländern "ab dem 1. Januar 2007 bis zum 31. Dezember 2019" Ausgleichszahlungen für den "Wegfall der Finanzierungsanteile des Bundes" an bestimmten Hochschulprojekten. "Bis zum 31. Dezember 2013 werden diese Beträge aus dem Durchschnitt der Finanzierungsanteile des Bundes im Referenzzeitraum 2000 bis 2008 ermittelt."

Gewandelt hat sich auch der Sinn für eine gewisse Höhe der Abstraktion

Dass die Politik solche profanen Details unbedingt in die Verfassung heben müsse, sei eine Unsitte, die den Text "immer weiter und unsinniger aufbläht", hat der Göttinger Verfassungsrechtler Werner Heun schon damals kritisiert. So zerfalle das Grundgesetz inzwischen beinahe "in zwei Teile", die unterschiedlich klängen, meint auch der Verfassungsrechtler Dreier. Schnöde Prozentzahlen, Geldbeträge: Früher gab es so etwas nicht im Grundgesetz. "Zur Stärkung der Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit kann der Bund ein Sondervermögen für die Bundeswehr mit eigener Kreditermächtigung in Höhe von einmalig bis zu 100 Milliarden Euro errichten", heißt es jetzt seit einigen Monaten neu in Artikel 87a.

Fundamental hat sich wenig verändert an dem politischen System, das im Grundgesetz seit 74 Jahren festgelegt wird. Aber der Sinn für Sprache, für Prägnanz, auch für eine gewisse Höhe der Abstraktion hat sich doch gewandelt. Das sei nicht nur aus ästhetischen Gründen bedauerlich, meint der Verfassungsrechtler Thiele. Es zeuge auch von einem leider zunehmenden gegenseitigen Misstrauen in der Politik, wenn Verhandlungsergebnisse immer öfter haarklein in der Verfassung verankert würden - damit später bloß niemand mehr daran rütteln könne.

So steht die Schuldenbremse neuerdings sogar gleich zweimal praktisch wortgleich im Grundgesetz, sagt Thiele. In den Artikeln 109 und 115. "Warum, weiß eigentlich keiner."

Zur SZ-Startseite

SZ PlusNord-Stream-Anschlag
:Gleich zwei heiße Spuren führen in die Ukraine

Seit den Explosionen an den Pipelines in der Ostsee gibt es jede Menge Spekulationen um die Drahtzieher, doch bislang kein offizielles Ergebnis. Jetzt verdichten sich die Hinweise - und die bergen politische Sprengkraft.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: