Der 8. Mai 1945, sprach der Festredner, "war so grau und trostlos wie so viele vor oder auch noch nach ihm". Es gebe tatsächlich Leute, die vom Tag der Befreiung redeten: "Wir alle wissen, wie weit die Wirklichkeit davon entfernt ist." Der Redner war Bundeskanzler Ludwig Erhard, CDU, er sprach 1965 zum 20. Jahrestag des Kriegsendes. Am selben Tag wurde das Grundgesetz 16 Jahre alt, dem Kinderalter entwachsen. Aber der Kanzler der jungen Republik, die auf dieses Grundgesetz gebaut war, schien noch den Trauerflor für das in einem Albtraum aus Blut und Feuer versunkene Deutsche Reich zu tragen.
Wer nach deutscher Manier die Gegenwart im Zwielicht des Zweifels und der Verdrießlichkeit betrachtet, sollte doch einmal zurückblicken. So wie damals der zweite Kanzler der Republik sprechen heute nur die Rechtspopulisten. Das Grundgesetz war im Wesentlichen fast dasselbe wie heute, die Republik war es nicht. Immer wieder hat der Staat versucht, die Verfassung zu verändern, oder dies auch getan, oft nicht zu ihrem Besseren. Aber die Verfassung hat den deutschen Staat viel tiefgreifender verändert als umgekehrt.
Am 8. Mai 1945 endeten Krieg und Nazityrannei, und an einem 8. Mai, nur vier Jahre später, beschloss der Parlamentarische Rat das Grundgesetz. Und es ist wahr, dass diese atemberaubend freiheitliche Verfassung erst für die Westdeutschen und dann für die vereinte Nation zum Maß aller politischen Dinge, ja zum säkularen Glaubensbekenntnis dafür wurde, aus der Vergangenheit gelernt zu haben. Wahr ist allerdings auch, dass dieser Lernprozess Jahrzehnte brauchte und noch immer nicht abgeschlossen ist.
Als die vielen Väter und vier Mütter des Grundgesetzes unter Giraffenköpfen im Bonner Naturkundemuseum Koenig tagten, fühlte sich die größere Mehrheit der Deutschen gar nicht befreit. Das Land lag in Trümmern, war geteilt, Millionen Flüchtlinge suchten eine Heimat. Und das große Vergessen, diese von dem Psychologenpaar Margarete und Alexander Mitscherlich so treffend diagnostizierte "Unfähigkeit zu trauern", nämlich um die Opfer von Diktatur, Gewalt, Holocaust und Vernichtungskrieg, zeigte bereits hässliche erste Symptome.
Es mussten Jahre vergehen und ein von der CDU gestellter Bundespräsident kommen, Richard von Weizsäcker, um der - noch geteilten - Nation 1985 die Wahrheit ins Gesicht zu sagen (als der Sozialdemokrat Willy Brandt Anfang der Siebziger ähnlich gesprochen hatten, spuckte die Union noch Gift und nationale Galle): Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung, nicht für jeden Einzelnen, aber für die Nation insgesamt, die sich zuvor zu großen Teilen der Naziherrschaft ausgeliefert und alles spätere deutsche Elend selber zu verantworten hatte. Im Grundgesetz sah Weizsäcker "die Antwort auf Krieg und Gewaltherrschaft", sie steht gleich in Artikel 1: "Die Würde des Menschen ist unantastbar."
Heute sind solche Worte eine Selbstverständlichkeit. Das Grundgesetz und sein Hüter, das Bundesverfassungsgericht, haben ein anderes Land aus Deutschland gemacht. Es ist, so unvollendet und von Rückschlägen begleitet dieser Prozess stets bleiben wird, liberaler, gerechter und viel demokratischer geworden. Das Grundgesetz erscheint, obwohl im Rentenalter, jünger denn je.
Aber stimmt es, dass es - wie es in den Geburtsglückwünschen jetzt oft heißt - nicht besser sein könne als seine Bürger und dass es von deren Zustimmung lebe? Natürlich ist das richtig, aber eine starke Verfassung wie das Grundgesetz ist dafür geschaffen, als Bastion der Freiheit auch Zeiten der Krisen und politischer Radikalisierung zu bestehen. So groß bleibt der Bann dieser Verfassung immerhin, dass es der Rechtspopulismus, der viele Freiheiten des Grundgesetzes doch fürchtet und ablehnt, anders als früher nur selten wagt, seine Feindschaft offen zu bekennen. Lieber geriert er sich als wahrer Freund der Verfassung und zwängt sich so sichtbar in Kleider, die ihm nicht passen.
Gefährlicher wird es, wenn die offene Gesellschaft die Werte, die das Grundgesetz bewacht, zu selbstverständlich nimmt oder gar mutwillig missachtet. Da ist die ewige Versuchung, im Interesse der Sicherheit die Bürgerrechte abzubauen; eine Bedrohung, die mit den digitalen Technologien immer mehr wächst und das Verfassungsgericht bereits deutlich in die Defensive gedrängt hat. Da ist aber auch die um sich greifende Erwartungshaltung vieler Bürger, die Verfassung sei ein Wünsch-dir-was-Zettel und der Staat dafür da, diese Wünsche umgehend und ausnahmslos zu erfüllen. Der um sich greifende Opferhabitus von Menschen, denen doch alle Möglichkeiten zur demokratischen Teilhabe offen stünden, ist ein Warnzeichen.
Das Grundgesetz erlaubt jeder und jedem, was die Unabhängigkeitserklärung der USA pursuit of happiness nannte, ihr oder sein Glück selbst zu schmieden. Es wird auch in seinem 71. Lebensjahr nicht dafür da sein, dieses Glück in möglichst großen Happen zu verabreichen.