Das Politische Buch:Die Karlsruher Republik

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"Kann man die Geschichte der Bundesrepublik ohne ihre Verfassungsgeschichte schreiben?" Der Bundesadler hinter der Richterbank im Karlsruher Gerichtssaal. (Foto: Ute Grabowsky/photothek.net/Imago)

Wie sehr prägt das Bundesverfassungsgericht die Republik? Der ehemalige Richter Dieter Grimm schreibt eine fantastische Wirkungsgeschichte des Grundgesetzes.

Von René Schlott

Wenn ein Verlag in seinem Herbstprogramm gleich zwei neue Sachbücher zum Grundgesetz veröffentlicht, muss er davon ausgehen, dass das Thema bei potenziellen Käuferinnen und Käufern derzeit auf ein entsprechend großes Interesse stößt. Wahrscheinlich zu Recht, denn ein oft bemühtes Bonmot lautet: Krisenzeiten sind auch Verfassungszeiten. Was bleibt einer in vielen Fragen gespaltenen Gesellschaft denn auch anderes übrig, als sich inmitten der fortschreitenden Polarisierung immer wieder auf ihre gemeinsame Geschäftsgrundlage zu besinnen? Und doch hat der Vorlauf zu beiden Neuerscheinungen sicher weit vor den aktuellen Krisen begonnen.

Dieter Grimm: Die Historiker und die Verfassung. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte des Grundgesetzes. Verlag C.H. Beck, München 2022. 358 Seiten, 34 Euro. (Foto: C.H. Beck)

Im Fall des Buches von Dieter Grimm liegt er sogar gut zwei Jahrzehnte zurück. In einem Zeitschriftenaufsatz beklagte der ehemalige Verfassungsrichter im Jahr 2000 den geringen Stellenwert des Rechts in bundesdeutschen Geschichtswerken. Grimm manifestierte seine Kritik an der damals viel gelobten "Deutschen Gesellschaftsgeschichte" von Hans-Ulrich Wehler, dessen Anspruch auf eine Darstellung der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung von 1700 bis 1990 sich auf die vier Grunddimensionen Herrschaft, Wirtschaft, Kultur und soziale Ungleichheit bezog, ohne dass das Recht eine eigene Dimension darstellte.

Prüfung von zwölf Sachbüchern

Ausgehend von diesem frühen Befund und der rhetorischen Frage "Kann man die Geschichte der Bundesrepublik ohne ihre Verfassungsgeschichte schreiben?" unterzieht Grimm nun zwölf thematisch einschlägige historische Sachbücher, die im Zeitraum von 1997 bis 2021 erschienen sind und von namhaften Autoren wie Heinrich August Winkler und Ulrich Herbert verfasst wurden, einer systematischen Analyse. Grimm prüft etwa, ob und wie Verfassungsgerichtsurteile, die aus seiner Sicht für die politische und gesellschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik prägend waren, Eingang in die ausgewählten historischen Gesamtdarstellungen gefunden haben. Er kommt trotz einiger Nuancen in den zwölf Titeln fast immer zum selben Ergebnis: kaum oder unzureichend. Deshalb kann das Buch schnell sehr schematisch und erwartbar wirken.

Dieter Grimm, deutscher Jurist, Rechtswissenschaftler und ehemaliger Richter des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 2019. (Foto: Regina Schmeken)

Dennoch liest man es mit größtem Erkenntnisgewinn, denn seinem bescheidenen Untertitel ("Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte des Grundgesetzes") zum Trotz, es ist gerade das: eine wirklich hervorragende und beeindruckende Wirkungsgeschichte des Grundgesetzes. Denn um die Leerstellen in den vorliegenden historischen Darstellungen deutlich machen zu können, muss Grimm zunächst selbst die Relevanz verfassungsrechtlicher Entwicklungen für den Verlauf der bundesrepublikanischen Geschichte herausarbeiten: So entsteht en passant - auch wenn Grimm das im Vorwort verneint - eine Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik, denn oft wurden "Fragen von großem politischen Gewicht in Deutschland am Ende von einem Gericht entschieden [...] und nicht von den gewählten [...] Politikern", oft wirkte die Verfassung in einer an einigenden Faktoren mangelnden Gesellschaft als "Integrationsmedium".

Liberalisierung der Republik

Grimms Verfassungsgeschichte legt die nicht zu vernachlässigende Rolle des Bundesverfassungsgerichts bei der Liberalisierung der Republik mit Verweis auf die breite, geradezu entgrenzte Auslegung der in den Grundrechten festgehaltenen allgemeinen Handlungsfreiheit in wegweisenden Urteilen der 1950er-Jahre genauso überzeugend dar wie den Beitrag früher Interventionen des Verfassungsgerichts zugunsten einer sehr weit gefassten Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Den überragenden Stellenwert der Freiheitsrechte in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts innerhalb seines Darstellungszeitraums von 1949 bis 2020 fasst Grimm in dem Begriff der "Grundrechtsjudikatur" zusammen.

Schrank der deutschen Ordnung: Richterroben des Bundesverfassungsgerichts, bestehend aus roter Robe, weißem Beffchen und der Kopfbedeckung Barret. (Foto: Ute Grabowsky/photothek.net/Imago)

Daneben zeichnet er nicht nur die vom Selbstbewusstsein einiger seiner Richter geprägte Entwicklung des Verfassungsgerichts von einer dem Bundesjustizminister quasi untergeordneten Institution zu einer tragenden Säule des Staatsgefüges sui generis nach, sondern auch die wechselvolle Beziehung der Gesellschaft zu "ihrem" obersten Gericht, die keinesfalls eindimensional und ausschließlich in Richtung Wertschätzung verlief, sondern wie jede Beziehung Höhen (Brokdorf-Urteil 1985) und Tiefen (Abtreibungsurteil 1975, "Soldaten sind Mörder"-Urteil 1994, Kruzifixurteil 1995) kannte.

Meister der pointierten Sätze

Grimm erweist sich dabei - für einen Juristen nicht selbstverständlich - als ein Meister kurzer und pointierter Sätze: "Grundrechte bilden also eine Verheißung, deren Realwert vom Umfang der Beschränkungen abhängt." Solche Sätze lesen sich gerade vor dem Hintergrund der bislang historisch einmaligen Summe und Tiefe von Freiheitseinschränkungen in den vergangenen beiden Jahren mit besonderer Schwere.

Regen hält das Grundgesetz auch ohne Schirm gut aus. Doch nicht überall in der Republik leben Verfassungsfreunde. Szene vom Tag der Deutschen Einheit 2022 in Erfurt. (Foto: Karina Hessland/Imago)

Auch im zweiten Grundgesetzbuch aus dem Münchner C.H.-Beck-Verlag gibt es solche vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen bedeutungsvollen Sätze. "Wie eine Gesellschaft ist, lässt sich nicht am Wortlaut ihrer Verfassung erkennen, sondern allein daran, wen sie zu Außenseitern erklärt und wie sie mit ihnen umgeht", so der Jurist und Schriftsteller Georg M. Oswald in dem Vorwort des von ihm herausgegebenen Bandes, in dem einzelne Artikel und Abschnitte des Grundgesetzes von vierzig verschiedenen Autorinnen und Autoren "literarisch" kommentiert werden. Der Herausgeber hat dabei keinerlei Vorgaben gemacht, nur dass die Beiträge möglich "subjektiv" sein sollen. Entstanden ist deshalb ein ziemlich diverser (im guten wie im weniger guten Sinne des Wortes) Band, bei dem unklar bleibt, an welches Publikum, an welche Zielgruppe er sich eigentlich richtet. Man wird den Eindruck nicht los, dass hier vor allem die "großen Namen" ziehen sollen.

40 ziemlich subjektive Beiträge

Manche der Essays sind wirklich ein großes Lesevergnügen und originell, wie die Beiträge von Feridun Zaimoglu zum Diskriminierungsverbot, von Annette Pehnt zur Unverletzlichkeit der Wohnung und von Sybille Lewitscharoff zur Freizügigkeit. Martin Mosebach nutzt seine Auseinandersetzung mit der Glaubensfreiheit allerdings zur Wiedergabe seiner altbekannten Ansichten zum gegenwärtig verheerenden Zustand der katholischen Kirche unter dem der Häresie nahen Papst Franziskus. Jonas Lüscher dagegen unterhält bestens mit seiner fiktiven Erzählung "Reichstags-Blues™" zur Einführung von Artikel 109 Absatz 3 des Grundgesetzes, besser bekannt als "Schuldenbremse". Andere Essays beeindrucken durch ihre autobiografische Hintergrunderzählung, etwa Hilal Sezgins Beitrag zum Tierschutz oder Herta Müllers ergreifende Interpretation des ersten und wohl bekanntesten Verfassungsgrundsatzes: "Die Würde des Menschen ist unantastbar."

Seltsame und geschmacklose Einlassungen

Einzelheiten anderer Essays lassen sich dagegen kaum mit dem Geist des Grundgesetzes vereinbaren, etwa die geschmacklosen und zynischen KZ-Referenzen am Beginn des Essays von Max Czollek und Lucy Wagner zur Meinungsfreiheit, die sie an bestimmte, von der Verfassung nicht vorgesehene, zeitgeistige und volkspädagogische Voraussetzungen binden wollen, oder Karl-Heinz Otts Bekenntnisse, nicht nur die Taliban, sondern auch Trump und Putin ermorden zu wollen. Dabei kennt das Grundgesetz aus guten historischen Gründen ausdrücklich keine Todesstrafe - für niemanden.

Georg M. Oswald (Hg.): Das Grundgesetz. Ein literarischer Kommentar. Verlag C.H. Beck, München 2022. 381 Seiten, 26 Euro. E-Book: 19,99 Euro. (Foto: C.H.Beck)

Unter den von Juristinnen und Juristen verfassten Beiträgen stechen die Essays von Benjamin Lahusen und Tristan Wißgott heraus: Wißgott, ein noch unbekannter Göttinger Jurastudent und mit Jahrgang 1998 jüngster Autor der Anthologie, beschäftigt sich mit dem zuletzt viel diskutierten Artikel 2 und stellt klar: "Absoluten Schutz gewährt das Grundgesetz tatsächlich nur der Menschenwürde; weder Leben noch körperliche Unversehrtheit werden demgegenüber absolut gesetzt." In seinen Überlegungen zum ebenfalls in Artikel 2 festgehaltenen Grundsatz der freien Entfaltung der Persönlichkeit kommt Wißgott zu dem Ergebnis., dass das Bundesverfassungsgericht und seine auf diesen Artikel bezogenen Urteile die politische Kultur der Bundesrepublik so entscheidend mitgeprägt haben, dass man durchaus von einer "Karlsruher Republik" (Gerhard Casper) sprechen könne. Hier trifft Wißgott wiederum auf Dieter Grimm, den er als Referenz heranzieht, sodass zwischen beiden Bänden eine nicht nur äußerliche, sondern auch inhaltliche Verbindung besteht.

Hans-Ulrich Wehler entgegnete seinerzeit auf Grimms eingangs zitierte Kritik, sie sei berechtigt, aber er fühle sich "der rechtlichen Problematik, die überdies in einer eigenen, komplizierten Fachsprache traktiert wird, nicht gewachsen". Grimm, aber in Teilen auch Oswald haben nun mit ihren Büchern Abhilfe geschaffen. Wer künftig eine Geschichte der Bundesrepublik schreibt, wird nicht mehr sagen können, es gebe nichts Lesbares und auch für den Nichtfachmann Verständliches zur Rolle des Rechts in der Entwicklung der bundesdeutschen Demokratie.

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