Grünen-Streit um Waffenlieferungen an die Ukraine:Giftpfeile zwischen Partei-Rivalen

  • Die grüne Osteuropa-Expertin Marieluise Beck stößt in ihrer Partei bei der Debatte um Waffenlieferungen an die Ukraine auf Widerstand.
  • Streit hat Beck vor allem mit Jürgen Trittin - ihrem Hauptkontrahenten.
  • Beck ärgert sich, dass Medien, Geheimdienste und Parteifreunde nicht die Wahrheit über den Krieg in der Ukraine aussprechen würden.

Von Stefan Braun, Berlin

Sofort fallen zwei Fotografien ins Auge. Sie sind nicht groß, sie hängen nicht zentral. Aber weil der Rest der Wand leer ist, will man sie genauer anschauen. Auf dem einen ist David Ben-Gurion zu sehen, der Staatsgründer Israels. Er hat einen kleinen Jungen an der Hand, beide gehen über einen kargen, mühsam bearbeiteten Acker. Auf dem zweiten sieht man eine gebeugte, kauernde Frau, sie sitzt zwischen langen Reihen von Särgen. Man muss genau hinsehen, dann entdeckt man eine Ortsangabe: Srebrenica. Zwei kleine Fotos, zwei große Geschichten. Geschichten, die Marieluise Beck geprägt haben.

Die Bundestagsabgeordnete hat einen Tag voller Debatten und Kämpfe hinter sich. Der Krieg in der Ukraine absorbiert ihr Leben und beherrscht ihre politische Arbeit. Die Grüne springt nicht von Thema zu Thema. Wenn sie eines hat, kümmert sie sich mit vollem Einsatz, stürzt sich hinein, man kann sagen, sie tut das mit Haut und Haaren. Das macht sie in der aktuellen Debatte über die Ukraine interessant. Und es macht sie schwierig für ihre politischen Gegner. Beck steckt tiefer drin als andere, sie reist immer wieder hin, kennt viele Menschen dort und kann viel über deren Schicksal erzählen. Andere, auch bei den Grünen, reden zwar viel darüber, waren aber noch kaum in dem Land, in dem seit Monaten ein Krieg tobt. Nüchternheit und Distanz gegen Nähe und Emotion - wer mit Beck zu tun hat, stößt immer wieder auf diese Gegensätze.

Das war Mitte der Neunzigerjahre so, als sie sich um vergewaltigte Frauen aus Bosnien kümmerte, immer wieder auch selbst dorthin fuhr - und erleben musste, wie ihr andere lange erklärten, man könne nichts machen, wenn die sich die Köpfe einhauten. Ähnliches wiederholt sich für sie jetzt, da sie sich mit größter Leidenschaft für die Menschen in der Ukraine einsetzt - und andere ihr Hauptaugenmerk darauf richten, die Beziehungen zu Russland nicht zu gefährden.

Beck profitiert von Kontakten der Heinrich-Böll-Stiftung

Der Tag war lang, Beck ist müde, als sie reinkommt. Trotzdem redet sie sofort los. Auf dem Tisch wartet eine große Kanne Tee, sie braucht Energie, man merkt sofort, wie die Lage und die Debatten in Deutschland sie aufwühlen. Am Abend zuvor ist sie aus Odessa zurückgekommen. Sie hat mit Kirchenleuten gesprochen, mit jungen Frauen aus Kiew, mit Soldaten an der Front. Sie profitiert von den über Jahre gewachsenen Kontakten der Heinrich-Böll-Stiftung.

Und sie nutzt Verbindungen zu russischen Menschenrechtsgruppen, die Kontakte in die Ukraine haben. Pfarrer aus Charkiw haben ihr geschildert, wie inzwischen bewusst auch Pfarrer nebst ihrer Familien getötet würden. Sie erzählt von den Männern in Odessa, denen die Angst in den Augen stehe, weil die Einberufung drohe. Sie berichtet, wie fürchterlich schlecht es um die Ausstattung der ukrainischen Soldaten bestellt sei. Wer einberufen werde, müsse sich selbst um Helm und Winterkleidung kümmern. Dann komme eine Ausbildung von wenigen Wochen - wo solle das hinführen? "Hier kämpft eine hochmoderne Armee aus regulären russischen Truppen und prorussischen Freischärlern gegen eine Barfuß-Armee", klagt die Osteuropa-Expertin der Grünen.

Das Wort von der Barfuß-Armee ist interessant. Alles andere in dem Satz ist es auch. Beck ärgert sich, dass es bis heute Politiker, Medien, Geheimdienste und Parteifreunde gebe, die nicht die ganze Wahrheit aussprechen würden. Die Wahrheit, dass wie sie es sagt, reguläre russische Truppen auf Seiten der Separatisten kämpften. "Warum gibt es so wenig Empathie für die Opfer?", fragt sie verzweifelt. "Wir müssen uns ehrlich machen." Es gebe nicht zwei gleichermaßen schuldige Kriegsparteien in der Ukraine. "Es gibt Angreifer und Verteidiger. Aus meiner Sicht darf man das nicht länger leugnen."

Marieluise Beck

Marieluise Beck, 62, ist eine Grünen-Politikerin der ersten Stunde. Die Osteuropa-Expertin reist oft in die Ukraine.

(Foto: Ingo Wagner/dpa)

Beck hat bösen Streit mit Trittin

Es hat seit dem Morgen heftige Debatten übers Thema gegeben. Am schärfsten in der außenpolitischen Arbeitsgruppe der Grünen. Bösen Streit sogar mit Jürgen Trittin, ihrem Hauptkontrahenten. Die beiden, die sich schon so lange kennen, können sich in diesen Wochen und Monaten nur schwer noch aushalten. Als Beck am Morgen von der Ukraine-Reise berichtet, soll Trittin demonstrativ im iPad gelesen haben. Beck will sich das nicht mehr gefallen lassen. Und Trittin lächelt. Von sehr giftigen Pfeilen erzählen jene, die es erlebten. Beck und Trittin, die von der ersten Stunde der Grünen dabei sind, haben noch nie zusammengepasst, aber den ganz großen Clash bis heute vermieden.

Jetzt jedoch, da beide das Gros ihrer Karriere hinter sich haben, wollen sie sich nichts mehr gefallen lassen. Er, der nüchtern-kühle Analytiker; sie, die eintaucht, sich vor Ort umschaut und damit auch ihrem Mitgefühl, ihrer Emotion Raum gibt. Der 60-Jährige und die 62-Jährige sind zu den zentralen Polen einer aufwühlenden Debatte geworden.

Dabei geht es um vieles, aber am allermeisten um eine Frage: Soll man der Ukraine, einem Land, das in Not ist und sich verteidigen möchte, helfen? Kann man da Waffenlieferungen von vornherein ausschließen? Oder muss man sie wenigstens in Erwägung ziehen, um die Menschen nicht alleinezulassen?

Beck hält grundsätzliches Nein zu Waffen für falsch

Trittin hat darauf eine Antwort gegeben. Als vor wenigen Tagen erstmals der Eindruck entstand, die USA könnten kurz davor stehen, Waffen zu liefern, hat er von einem "Spiel mit dem Feuer" gesprochen. Beck hingegen hält dieses grundsätzliche Nein für falsch. Ja, auch sie wisse nicht, ob Waffen derzeit wirklich helfen könnten. Aber die ethische Frage, ob man einem Angegriffenen, der die Pflicht habe, seine Menschen zu schützen, jede militärische Hilfe grundsätzlich verweigern könne, beantworte sie klar "mit einem Nein."

Für Beck ist das zu einer Grundsatzfrage geworden. Der Satz "Nie wieder Krieg" habe sich zwar zu Recht tief ins Empfinden der meisten Deutschen eingebrannt, weil er dafür stehe, nie wieder eine Aggression vom Zaun zu brechen. Aber es gebe noch eine zweite Lehre aus der deutschen Geschichte. In der gehe es nicht um die Täter, sondern um Opfer. Menschen, die schmerzhaft hätten lernen müssen, sich zu verteidigen. "Wir haben die Welt gelehrt, dass sie sich verteidigen können, verteidigen dürfen muss", betont die Grüne. "Nie wieder Krieg!" sei deshalb nur eine Seite der Geschichte. "Das Recht der Opfer auf Schutz und Selbstverteidigung ist die zweite."

Beck will, dass die Linken, die Altlinken, die 68er, ja, dass auch ihre Grünen darüber nachdenken. Das ist, gut dreißig Jahre nach dem ersten Einzug ins Parlament, ihre Mission geworden.

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