Cem Özdemir schaut zur Seite. Sein Kiefer malmt. Der Parteichef der Grünen wendet sich seiner Sitznachbarin zu, der Ko-Vorsitzenden Claudia Roth. Sie reagiert nicht auf ihn. Özdemir wendet sich ab. Probiert es nochmal. Roth zischt ihm etwas zu, ohne den Blick abzuwenden. Sie schaut nach vorn. Sie nickt. Dann steht sie auf und klatscht, minutenlang. Özdemir bleibt sitzen.
Vorne, da steht Jürgen Trittin. Er war der Spitzenkandidat der Grünen im Bundestagswahlkampf - und Fraktionschef. Jetzt, auf dem Parteitag der Grünen in Berlin, hält er seine Abschiedsrede. Er hat feuchte Augen. Die Delegierten feiern ihn. Trotz allem. Enttäuschende 8,4 Prozent haben die Grünen bei der Bundestagswahl geholt, das Ergebnis wird ihm angelastet. Vier Wochen später soll die Pleite auf einem dreitägigen Parteitag aufgearbeitet werden. "Wir werfen einen Blick zurück und zwei nach vorn", hat Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke angekündigt. Tatsächlich ist es eher andersrum.
Wer ist schuld? Was ist schiefgegangen? Özdemir hat das erste Wort. Er hält die Auftaktrede, eine Bewerbungsrede. Er will im Amt bleiben. Anders als Trittin, anders als Roth, die am Samstag als Parteichefin von Simone Peter aus dem Saarland abgelöst werden wird. Özdemir will die personelle Neuaufstellung der Grünen überstehen. Das wird wohl klappen, wenn auch mit einem schlechten Ergebnis. Er rechne mit "Unmut", hat er Anfang der Woche gesagt.
"Es gibt nichts schönzureden"
Einen ernstzunehmenden Gegenkandidaten hat er zwar nicht. Aber nach ihm sprechen Trittin und Kretschmann. Özdemir steht im direkten Vergleich. Besteht er ihn? Die Reaktion der Delegierten sieht nicht gut für ihn aus.
"Es gibt nichts schönzureden, unser Wahlergebnis tut weh", sagt Özdemir. "Wir müssen darüber sprechen, warum das erwartete Ergebnis am Ende so sehr vom tatsächlichen Ergebnis abwich." Er erwähnt den Veggie-Day. Aber das sei doch "abenteuerlich", was da passiert sei: "Immer mehr Menschen essen immer weniger Fleisch. Immer mehr interessieren sich für Öko-Landbau." Natürlich wollten die Grünen den Menschen ihr Fleisch nicht verbieten. "Das Schlimme ist aber: man traut es uns zu!"
Özdemir nennt die Steuerfrage. Die Grünen hätten "die Menschen mit der Fülle von Maßnahmen und mit Steuertabellen einfach überfordert." Aber: "Das Ziel bleibt richtig. Der Staat braucht Mittel, um sie zu investieren und Schulden abzubauen. Aber ich schlag vor, dass wir über den konkreten Weg nochmal reden."
So geht es weiter. Ja, aber. Nicht alles falsch, nicht alles richtig. Nochmal drüber reden. "Natürlich trage auch ich hier Verantwortung", sagt Özdemir. "Meinen eigenen Anteil arbeite ich ehrlich für mich auf. Ich wäre bescheuert, wenn ich nicht hinterfragen würde, was ich wann, wo, wie falsch gemacht habe."
Was Özdemir falsch gemacht hat, sagt er nicht
Was hat Özdemir falsch gemacht? Sagt er nicht. Er spricht lieber von Tierfutter, der EEG-Umlage, dem Weltklimabericht. Vom Mittelstand als dem "Rückgrat unserer Volkswirtschaft". Von Eigenständigkeit und der Flüchtlingspolitik.
Er bekommt dafür verhaltenen Applaus. Trittin bekommt deutlich mehr. Dabei ist auch er ein "Ja, aber"-Redner. "Unser Programm war sehr genau. Es hatte auf jede Frage eine Antwort. Das macht angreifbar, besonders wenn die Gegenseite keinerlei Idee und keinerlei Angriffsfläche bietet." Die Grünen hätten gegen "mächtige Gegner" gekämpft. Der Landeschef der Grünen in Bayern, Dieter Janecek, wird später sagen, an eine "Verschwörung" glaube er nicht.
Trittin wirke wie Darth Vader, sagt Göring-Eckardt
Trittin rechtfertigt die Absage an die Union in den schwarz-grünen Sondierungsgesprächen: "Wir wollen mehr Klimaschutz, Merkel und BMW wollen weniger." Er schließt mit den Worten: "Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geborgt." Es folgt eine Laudatio auf ihn, gehalten von Katrin Göring-Eckardt. Sie war seine Ko-Spitzenkandidatin, jetzt ist sie neue Fraktionschefin. Sie sagt, Trittin wirke wie Darth Vader, der Bösewicht aus Star Wars. Aber er sei "ganz nett", wenn man ihn besser kennenlerne. Dann gibt es Blumen, und Darth Vader läuft von der Bühne, damit die Kamera seine Tränen nicht einfängt.
Özdemir? Bleibt lange sitzen, steht dann kurz auf, gibt Trittin einen Klaps auf die Schulter. Setzt sich wieder. Es ist noch nicht vorbei, Kretschmann kommt noch.
Trittin hat gesagt, er teile Kretschmanns Aussage nicht, die Partei sei "aus der Spur geraten". Da manifestiert sich der Streit zwischen den grünen Flügeln. Der Linke Trittin gegen den Realo Kretschmann. Aber Kretschmann mag nicht streiten. Sagt nur, seine Formulierung sei "milde" gewesen. "Ich habe nicht gesagt, wir müssen was ganz anders machen, denn das ist nicht der Fall." Im Übrigen sei Trittin "zurecht von der Katrin gepriesen worden. Ich bewundere jedes Mal, wenn ich mit ihm zusammen bin, seine Kompetenz."
Kretschmann spricht sehr laut, er fordert, die Partei müsse das "Zutrauen zurückgewinnen". Darum gehe es, nicht um Inhalte. Die Leute wüssten doch, dass die Partei für die ökologische Modernisierung stehe. "Für alle anderen Fragen gibt es schon andere Parteien."
Mitten in seiner Rede bittet Kretschmann um ein Glas Wasser, Claudia Roth bringt es ihm. Am Samstag folgt ihre große Show, ihr Abschied. Mit Blumen, mit Tränen, mit viel Drama. Vermutlich mit Standing Ovations. Auch Kretschmann bekommt sie. Und schließlich auch Renate Künast, die ehemalige Fraktionschefin, die ebenfalls Tränen in den Augen hat.
Özdemir verfolgt die Szenerie beinahe teilnahmslos. Er ist am Ende derjenige Spitzengrüne, dessen Applaus am leisesten war. Ein Omen für die Wahl am Samstag? Am Ende seiner Rede sagt er: "Jetzt seid ihr dran."