Mehr als tausend Änderungsanträge sind zum Europa-Wahlprogramm der Grünen eingegangen, es geht um oft kleinteilige Formulierungen. Doch als die Partei am Samstagnachmittag über den Entwurf debattiert, macht Außenministerin Annalena Baerbock klar, dass es für sie bei der Wahl im Juni um das große Ganze geht: "Die, die Europa kaputt machen wollen, die warten nur darauf, dass Europa sich in der Migrationsfrage zerlegt", ruft sie den Delegierten beim Parteitag in Karlsruhe entgegen.
Die unter den Grünen heftig geführte Asyldebatte steht eigentlich erst für den Abend auf der Agenda. Aber sie spielt auch bei der Diskussion um das Europawahlprogramm eine große Rolle. Erst recht, seit am Mittwoch der rechtsextreme Geert Wilders in den Niederlanden die vorgezogenen Parlamentswahlen gewonnen hat. Die Populisten warteten nur darauf, dass "die Ordnung scheitert, dass die Humanität scheitert", sagt Baerbock. Darum sei eine schnelle Einigung zum europäischen Asylsystem dringend nötig.
Für die deutschen, aber auch für die europäischen Grünen steht bei der kommenden Europawahl viel auf dem Spiel. 2019 erzielten die deutschen Grünen mit 20,5 Prozent ein Rekordergebnis, zogen mit 21 Abgeordneten ins Europaparlament ein. Damals aber war der Klimaschutz eines der beherrschenden Wahlkampfthemen - das dürfte sich 2024 eher nicht wiederholen, wie selbst Baerbock einräumt: Der Klimaschutz dürfte "kein Wahlkampfschlager" werden.
Die Kassen sind knapp, trotzdem fordert die Partei einen massiven Umbau der Wirtschaft
Wie sich die Grünen mit ihrem Programm für die Wahl positionieren, dürfte zur Blaupause auch für den Bundestagswahlkampf ein Jahr später werden. Das große Ziel der Parteispitze: wegkommen vom Image des Widerstands und der Verbote, hin zu einem der Lösungen.
Im Zentrum soll eine "Infrastrukturunion" stehen. Geplant ist ein Netz aus Wasserstoff- und Glasfaserleitungen, aus Stromtrassen und Schienen, aus Solarpanelen und Windparks, aber auch aus "modernen Krankenhäusern und verlässlichen Kitas". Man wolle Europa buchstäblich verbinden, sagt Co-Parteichefin Ricarda Lang. Die Grünen fordern deshalb auch in Zeiten knapper Kassen in Deutschland, massiv in den Umbau der Wirtschaft zu investieren.
Heftige Debatten innerhalb der Partei verursacht allerdings, dass die Grünen mit dem Programm auch ein jahrelanges Tabu brechen wollen. Die Partei will sich für die lange umstrittene unterirdische Speicherung von Kohlendioxid ("Carbon Capture and Storage" - CCS) öffnen. Die Parteispitze verweist im Entwurf dabei auf jene Bereiche der Industrie, denen der Verzicht auf Kohlendioxid kaum möglich ist - etwa der Zementindustrie. Ihnen könnte die Speicherung auf dem Weg zur Klimaneutralität helfen. Die Parteiführung agiert damit ganz im Sinne von Wirtschaftsminister Robert Habeck. Sein Ministerium arbeitet gerade an einer eigenen Strategie zum "Carbon-Management", die auch die Nutzung unterirdischer Speicher vorsehen soll - und sei es in Norwegen oder Dänemark.
Umweltschützer wittern einen Verrat der Grünen am Klimaschutz
Für die Partei ist das eine erstaunliche Wende. Noch bei der Europawahl 2019 lehnte sie CCS als "Risikotechnologie" ab, "wegen der unabsehbaren Gefahren", die für Gesundheit und Umwelt drohen könnten. Ähnlich klangen Wahlprogramme davor. Lange Zeit lag die Kritik der Grünen ganz auf Linie der deutschen Debatte: Denn die Abscheidung und Speicherung von Kohlendioxid hatte in Deutschland einen schweren Stand. In betroffenen Regionen gab es heftige Proteste.
Im Umweltlager hält man weiter nichts von den Plänen und kritisiert die Grünen für die Wende hart. "Die CO₂-Endlagerung ist eine risikobelastete Scheinlösung, die der Wirtschaft auf dem Weg zur Klimaneutralität nicht helfen wird", sagt etwa Greenpeace-Chef Martin Kaiser. Der Industrie diene die Debatte darüber lediglich als Vorwand, den Umbau hin zu klimafreundlichen Produkten und Prozessen zu verschleppen. "Die Grünen dürfen nun keinesfalls Verrat am Klimaschutz begehen und in die CCS-Falle der Öl- und Gasindustrie tappen", sagt Kaiser. Auch der Umweltverband BUND warnt vor einer "sehr bedenklichen Entwicklung". Gerade von den Grünen habe man so eine "180-Grad-Wende" nicht erwartet.
Zu ihrer Spitzenkandidatin für die Europawahl wählten die Grünen die 36-jährige Terry Reintke aus Gelsenkirchen, die bereits jetzt an der Spitze der Grünen-Fraktion im Europaparlament steht. Mit 95 Prozent erhielt sie ein starkes Ergebnis. Andere bekannte Gesichter der Partei werden bei der Wahl im Juni nicht mehr antreten, etwa die frühere Fraktionschefin der Grünen im EU-Parlament, Ska Keller, oder der Außenpolitiker Reinhard Bütikofer.