Grüne Wünsche:Auf dem Weg zum Selbstverrat

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Die Grünen schämen sich für das, was in der Agenda 2010 falsch gelaufen ist und wollen das mit einem milliardenschweren Sozialprogramm wieder glattbügeln. Die Gegenfinanzierung vernachlässigen sie sträflich - und brechen so mit ihren eigenen Idealen.

Nico Fried

Die Machtfrage wurde nicht gestellt. Mit deutlicher Mehrheit folgten die Grünen auf ihrem Parteitag in Nürnberg in der Sozialpolitik ihrem Bundesvorstand. Eine Grundsicherung mit höheren Regelsätzen für Hartz-IV-Empfänger und ihre Kinder steht nun im Forderungskatalog der Oppositionspartei. Langzeitarbeitslose sollen nicht mehr unter Druck gesetzt, sondern zur Arbeitsaufnahme lediglich ermutigt werden.

Und für künftige Generationen sollen massive Investitionen in den Bildungsbereich das ermöglichen, was im neudeutschen Politsprech Teilhabe heißt. Abgelehnt wurde die ebenso schöne wie realitätsfremde Vorstellung eines staatlichen Grundeinkommens für alle Bürger.

Das Ergebnis entsprach den Wünschen des Bundesvorstandes um Claudia Roth und Reinhard Bütikofer, die den Befürwortern des Grundeinkommens in den Wochen und Monaten vor dem Parteitag schon weit entgegengekommen waren, um ein zweites Debakel wie auf dem Afghanistan-Parteitag in Göttingen zu verhindern.

Dem Vorstand hatte sich die Fraktionsführung um Renate Künast und Fritz Kuhn angeschlossen, wie auch Jürgen Trittin, der konstant zur grünen Führung gezählt wird, auch wenn auf diesem Parteitag nicht zu erkennen war, warum.

Die Machtfrage wurde nicht gestellt. Und doch war es bis zum Samstag abend kein langweiliger Parteitag. Debatten bei den Grünen oszillieren traditionell zwischen Idealismus und Realismus, angereichert durch praktischen Sachverstand vieler engagierter Delegierter und aufgelockert durch einige beachtliche Selbstdarsteller oder solche aus der Grünen Jugend, die es noch werden wollen.

Die Ernsthaftigkeit der Auseinandersetzung ist stets bemerkenswert, egal ob es um Krieg und Frieden geht, ein neues Parteilogo oder eben die Sozialpolitik. Alles ist fast gleich wichtig. Keine andere Partei nimmt sich selbst so ernst wie die Grünen.

Festzustellen ist aber, dass sich wohl auch keine Partei so schnell von ihrer Regierungszeit verabschiedet hat wie die Grünen. Die Debatten der SPD, auf welche Teile der Agenda 2010 man nun stolz sein könne und welche zu korrigieren seien, solche Debatten haben die Grünen schlicht übersprungen. An den Erfolgen, für die sie Mitveranwortung tragen, erfreuen sie sich einfach gar nicht. Sie schämen sich nur für das, was aus ihrer Sicht falsch gelaufen ist.

Dieser Mangel an Selbstbewusstsein, ja an Selbstachtung ist frappierend und völlig unangemessen. Die Partei reduziert damit höchstselbst ihren Anteil an der Regierung Schröder darauf, Reformen nicht aus Überzeugung, sondern nur aus zähneknirschender Gefolgschaft verabschiedet zu haben. Und nun nichts mehr damit zu tun haben zu wollen.

Diese Selbstdistanzierung geht jedoch noch weiter: Das Konzept der Grundsicherung soll 60 Milliarden Euro kosten, allein die Erhöhung der Regelsätze summiert sich dabei auf knapp zehn Milliarden Euro. Man kann das vielleicht gegenfinanzieren, irgendwie.

Der Vorstand hat dazu auch Vorschläge unterbreitet - lauter Maßnahmen, die entweder das Gegenteil der eigenen Politik aus den vergangenen Jahren bedeuten würden oder an denen sich die Grünen schon als kleiner Koalitionspartner die Zähne ausgebissen haben.

Trotzdem sprach fast keiner der Redner in der vierstündigen Debatte diese Finanzierung und die damit verbundenen Kehrtwendungen und Schwierigkeiten an. In der Nürnberger Messehalle konnte man den Eindruck gewinnen, irgendwo draußen vor der Tür sei ein riesengroßer Topf, bei dem es nicht mehr darum geht, wie er gefüllt, sondern nur noch, für wen er ausgeschüttet wird.

So aber haben die schönsten Konzepte keine große Zukunft. Es ist das gute Recht der Opposition, sich immer ein bisschen mehr zu wünschen. Wenn aber die Grünen, zu deren Verdienst es gehört, dass der Vorsatz der Nachhaltigkeit längst auch in der Finanzpolitik zum Prinzip geworden ist, diese Frage nun nur noch nachrangig behandeln, dann grenzt ihr neuer Weg an Selbstverrat. Fast möchte man den Grünen wünschen, dass sie zur Rückkehr auf den Boden der Tatsachen mal wieder in eine Regierung gezwungen werden.

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