Grüne Wahlkämpfer in Sachsen:Ferien im Kampfgebiet

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Infostand statt Badestrand, Pirna statt Paris, Meißen statt Marrakesch: Wie ehrenamtliche Wahlurlauber die sächsischen Grünen im Wahlkampf unterstützen.

Florian Meyer

Schrebergartengemüse, Gulaschkanone und BHs von 75 A bis 115 DD: Seinen Sommerurlaub hatte sich Eric Leistner, 24, anders vorgestellt. Es ist Markttag im sächsischen Radeberg und Leistner kämpft um Aufmerksamkeit. Seit neun Uhr steht er auf dem Kopfsteinpflaster am Markt der Kleinstadt, die wegen des gleichnamigen Biers über den Landkreis hinaus bekannt ist.

Diese jungen Grünen fahren nicht in den Urlaub - sondern machen Wahlkampf für ihre Partei in Sachsen. (Foto: Foto: seyboldtpress.com)

Die Menschen auf dem Markt tragen Kopftuch oder Strickpullunder, sind über 60 und erinnern sich gut an die Zeit, als Radeberg noch für das Glasbläserhandwerk stand. In einer Stunde werden sie mit dem Bus zurück nach Kleinröhrsdorf, Großröhrsdorf oder Leppersdorf fahren, vorher will Eric Leistner noch sein Anliegen vortragen. Doch heute hat er wenig Erfolg.

Leistner ist Wahlurlauber, bereits seit Anfang August. Seine Mission: Wählerstimmen gewinnen. An der Nordseite des Marktplatzes, vor dem Eingang zur Stadtverwaltung der "großen Kreisstadt Radeberg", hat er einen Falttisch und einen grünen Sonnenschirm aufgestellt - obwohl der Himmel einförmig grau ist.

"Wahlkämpfen, wo andere Urlaub machen", wurde Leistner in die Provinz gelockt. Pirna statt Paris, Meißen statt Marrakesch - die Grünen laden zum Wahlurlaub in Sachsen.

Mehr als 50 Helfer haben sich gemeldet. Die Wahlurlauber unterstützten die sächsischen Grünen bei der Landtagswahl. Und auch vor der Bundestagswahl opfern sie ihre Freizeit für den Nahkampf um Stimmen. Sie diskutieren auf den Marktplätzen in Bautzen, Görlitz und Zwickau, plakatieren in den Fußgängerzonen von Annaberg, Meißen und Plauen. Ihr Einsatz dauert ein verlängertes Wochenende oder eine ganze Woche, manche nehmen sich sogar extra Urlaub für den Wahlurlaub. Ihr Ziel: ein gutes grünes Ergebnis am 27. September.

Eric Leistner studiert Lehramt in Marburg, dort ist er Mitglied bei den Grünen. Mit dem Drei-Tage-Bart und den Kopfhörern um den Hals sticht er hervor zwischen den Menschen mit Gehhilfen und Einkaufstaschen auf dem Radeberger Wochenmarkt. "Unterwegs im Auftrag des Klimas", ist auf seinem beigen T-Shirt zu lesen, auf seinem grünen Plastikarmband steht "Weltverbesserer". Deshalb ist er hier.

Von weitem hat sich Leistner eine junge Frau ausgeguckt, die einen Kinderwagen über das Kopfsteinpflaster schiebt. Ein scheinbar leichtes Ziel für grüne Ideen. Leistner geht auf sie zu, in der Hand hält er seine Überzeugungshilfe, eine Einladung zur Filmvorführung in der Radeberger Kinobar über das Artensterben.

"Guten Tag junge Frau", flötet er Mutter und Kinderwagen entgegen, er setzt ein breites Lächeln auf. "Darf ich Ihnen etwas zum Lesen mitgeben?" Kurzes Kopfschütteln, dann blickt die Frau demonstrativ zu Boden. Mit vollen Händen kehrt Leistner zu seinem Stand zurück. Wahlurlaub ist harte Arbeit, kein sonniges Sommermärchen.

"Ich könnte jetzt auch am Strand liegen", sagt Leistner über seinen Einsatz als Wahlhelfer, es klingt nachdenklich. Leistner hat Semesterferien. Erst hatte er darüber nachgedacht, an die Ostsee zu fahren, dann entdeckte er die zehnseitige Broschüre der Grünen mit Urlaubsmotiven aus der sächsischen Provinz.

Jetzt steht er auf ostdeutschen Markplätzen und wirbt für den "Green New Deal". Sein Verdienst: Kost und Logis - Gulaschkanone und das Zimmer in der 9er-WG - sowie die Aussicht auf eine Wahlparty. Leistner ist Idealist in Zeiten, in denen sich junge Menschen eher von der Politik abwenden. Und er ist eine Kämpfernatur, ein Wahl-Junkie. In Sachsen muss er im Wahlkampf mehr ackern als daheim in Marburg, er muss mehr Rückschläge einstecken. Der Wahleinsatz in den Ferien wird so zum Abenteuerurlaub auf dem Land. Das hat ihn gereizt.

Stephan Kühn freut sich über die motivierten Wahlurlauber. Kühn ist 30 Jahre alt und Direktkandidat des Wahlkreises 161, in dem Radeberg liegt. Die Idee, Helfer aus anderen Bundesländern für den Wahlurlaub anzuwerben, entstand Anfang des Jahres in der Landesgeschäftsstelle der Grünen, sagt er. Das Superwahljahr, vier Wahlen an drei Terminen, hätte die dünne Personaldecke der Grünen in Sachsen überfordert. "Die Wahlurlauber sind eine tolle Unterstützung für die Einzelkämpfer auf dem Land."

Die Idee, Freiwillige wahlkämpfen zu lassen, kommt aus den USA. Wahl für Wahl gehen dort Tausende für ihren Kandidaten von Tür zu Tür, sie telefonieren mit unentschlossenen Wählern oder organisieren Tupperpartys mit politischer Botschaft. Auch Barack Obama profitierte von den vielen Helfern, die er über seine Internetplattform mobilisieren konnte. Der Wahlurlaub ist der Versuch, Politik auch in Deutschland über die Ortsgruppen hinaus attraktiv zu machen. Mit Erfolg: Etwa die Hälfte der grünen Wahlurlauber hat kein Parteibuch.

Eine der parteilosen Wahlkämpferinnen ist Priscilla Leite-Wendel, 27, Brasilianerin und Wahlurlauberin in Dresden. Sich selbst nennt sie eine "Grünen-Symphatisantin", in die Partei eintreten will sie aber nicht. Bis vor zwei Jahren studierte Leite-Wendel Jura in Sao Paolo und wusste nicht einmal, wo Dresden genau liegt.

Jetzt steht sie kurz vor dem Master in Friedens- und Konfliktforschung an der Uni Magdeburg und weiß, dass man von Dresden über Klotzsche und Weixdorf fahren muss, um nach Ottendorf-Okrilla zu kommen. Wie Eric Leistner opferte sie zwei Monate ihres Sommers für den Wahlkampf in Sachsen. Auch sie bereut es nicht.

Priscilla Leite-Wendel sitzt im War Room, in der Wahlkampfzentrale der Grünen in Dresden, und ruht sich aus. Auf die Frage, warum sie nicht wirklich in den Urlaub gefahren ist, antwortet sie mit Achselzucken und einem Lächeln. "Ich wollte etwas Sinnvolles machen in meinen Ferien." Sie dreht sich zur Seite und legt die Füße auf den Stuhl vor ihr.

"Mit Urlaub hat der Wahlurlaub wenig zu tun"

Es klingt ehrlich, aber auch ein wenig verstaubt, wie als hätte sie den Satz in einem alten Buch gelesen. Überzeugender wirkt Leite-Wendel, wenn sie erzählt, wie sie nach Abendveranstaltungen auf dem Land bei Parteimitgliedern übernachtete, die grünen Spitzenpolitiker traf oder mit den anderen Wahlurlaubern vor einem langen Tag frühstückte.

Heute ist wieder so ein langer, anstrengender Tag: Plakate kleben in der Dresdner Bahnhofsgegend, einen Infostand betreuen in der Altstadt, abends zu einer grünen Lichtinstallation in der Neustadt. Die Reihe kraftraubender Wahlkampfeinsätze ist zum Glück bald vorbei.

"Mit Urlaub hat der Wahlurlaub wenig zu tun", sagt Leite-Wendel und lacht. Auf der Landkarte an der Wand sieht sie Städte, von denen sie vor ihren Ferien nie gehört hatte, in denen sie in den vergangenen zwei Monaten für die Grünen auf dem Marktplatz stand. Einen einzigen freien Nachmittag nutzte sie als Urlaub, sie sah den schiefen Turm von Bautzen und den St. Petri Dom. Es war der einzige Ausflug in ihren Ferien als Wahlurlauberin.

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