Datenanalyse:Was den Grünen zur Volkspartei fehlt

Grüne-Politiker Robert Habeck und Anton Hofreiter in München

Bei der Landtagswahl 2018 in Bayern hatten die Grünen allen Grund zum Jubeln, sie wurden zweitstärkste Kraft. Anders sah es in Thüringen 2019 aus.

(Foto: Stephan Rumpf)

Sie waren zuletzt sehr erfolgreich − bei Jungen, bei Städtern, bei Akademikern. Andere Gruppen erreichen die Grünen jedoch eher schlecht.

Von Christian Endt, Sören Müller-Hansen und Benedict Witzenberger

So geht das nun schon seit einigen Monaten. In den Umfragen liegen die Grünen mit mehr als 20 Prozent stabil auf dem zweiten Platz, der Rückstand zur Union schrumpft in den Bereich der statistischen Schwankungsbreite. Wenn demnächst eine Bundestagswahl anstünde, wäre eine grüne Kanzlerin also durchaus im Bereich des Realistischen. Gründe für diesen Zulauf gibt es viele: Das gewachsene Interesse an Klima- und Umweltthemen dürfte den Grünen ebenso nützen wie ihre programmatische und personelle Bewegung hin zur Mitte. Dazu kommt die anhaltende Schwäche der SPD - unter den Wählern der Grünen sind viele enttäuschte Sozialdemokraten. Sind die Grünen also im Begriff, zur neuen linken Volkspartei zu werden?

Nicht ganz. Zum einen sind die Grünen noch weit von jenen 40,9 Prozent entfernt, mit denen Gerhard Schröder 1998 das Kanzleramt für die SPD eroberte. Zum anderen fehlt den Grünen eine breite Unterstützung über die verschiedenen Bevölkerungsgruppen hinweg. Eine Analyse von Wahlstatistiken und Nachwahlbefragungen zeigt, dass die Wählerschaft der Grünen in vieler Hinsicht deutlich einseitiger ist als die anderer Parteien. Die Grünen finden demnach in großen Städten wesentlich mehr Zuspruch als auf dem Land, sie haben viel mehr junge Wähler als alte, sind in Westdeutschland wesentlich erfolgreicher als im Osten und haben unter ihren Anhängern überdurchschnittlich viele Akademiker.

Die Datenauswertung bezieht sich auf die Europawahl im Mai 2019, weil es dazu die aktuellsten bundesweiten Zahlen gibt. Der Befund ist aber stabil. So schreibt der Soziologe Bernhard Weßels in einer wissenschaftlichen Untersuchung der Bundestagswahl 2017: "Vor allem die besser Gebildeten und die Jüngeren sind in der Wählerschaft stark überrepräsentiert." Dazu passt auch das Ergebnis der Landtagswahl in Thüringen vom Oktober 2019. In diesem ostdeutschen und ländlichen Bundesland mit überdurchschnittlich vielen älteren Einwohnern reichte das Grünen-Ergebnis von 5,2 Prozent nur ganz knapp für den Wiedereinzug in den Landtag. Dagegen könnte die Partei in der Metropole Hamburg bei den anstehenden Bürgerschaftswahlen im Februar erstmals stärkste Kraft vor der SPD werden. Eine aktuelle Umfrage der ARD sieht die Grünen dort bei 29 Prozent.

"Es ist generell fraglich, ob es noch Volksparteien gibt", sagt der Politikwissenschaftler Tarik Abou-Chadi von der Universität Zürich und dem Zentrum für Demokratie Aarau. Die europäischen Demokratien seien generell stark fragmentarisiert. Aber auch wenn die Grünen bei einigen Gruppen besonders stark seien, hätten sie zuletzt in allen Bevölkerungsschichten dazugewonnen. Der Klimawandel beschäftige nicht nur die urbane Mittelschicht.

Gerade die anhaltende Wahrnehmung als Ein-Themen-Partei kann aber für die Grünen zum Problem werden, wenn wieder andere Politikbereiche in den Vordergrund rücken. Der langfristige Umfragetrend der Partei weist ein ausgeprägtes Auf und Ab aus. Zwischen den Bundestagswahlen erreichten sie häufig hohe Umfragewerte, stürzten vor der Wahl jedoch wieder ab. Besonders deutlich wurde das bei der Bundestagswahl 2013. Zwei Jahre zuvor havarierte im japanischen Fukushima ein Atomkraftwerk, in Deutschland wurde eine der Kernforderungen der Grünen, der Ausstieg aus der Kernenergie, beschlossen und in Umfragen erreichte die Partei zwischenzeitlich bis zu 23 Prozent. Im März 2011 wählten die Bürgerinnen und Bürger Baden-Württembergs Winfried Kretschmann und damit einen Grünen erstmals zum Ministerpräsidenten.

Doch bis zur Bundestagswahl verspielten die Grünen ihre hohen Sympathiewerte und erreichten am Ende ernüchternde 8,4 Prozent. Statt mit Umweltpolitik in der Öffentlichkeit zu punkten, entspann sich in der Partei eine Debatte um falsche Toleranz gegenüber Pädophilie in den Gründungsjahren der Grünen. Darüber hinaus schadete die Forderung nach einem Veggie-Day in Kantinen.

Mit radikalen Forderungen und polarisierenden Debatten hatten die Grünen schon früher im Vorfeld von Wahlen viele Stimmen eingebüßt. 1998 forderten sie etwa, den Preis für einen Liter Benzin schrittweise auf fünf D-Mark zu erhöhen. Ihre schlechtesten Umfrageergebnisse erreichten sie während ihrer ersten Legislaturperiode in der rot-grünen Koalition zwischen 1998 und 2002, als die Grünen ihr pazifistisches Versprechen brachen und gemeinsam mit der SPD Kriegseinsätze im Kosovo und in Afghanistan beschlossen.

Seit der Bundestagswahl 2017, bei der die Grünen 8,9 Prozent der Stimmen bekamen, sind die Umfragewerte wieder rasant gestiegen, im September 2019 lagen sie zwischenzeitlich bei 27 Prozent. Mit den Vorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck demonstriert die Partei innere Geschlossenheit. Sofern die große Koalition hält, sind es bis zur nächsten Bundestagswahl jedoch noch fast zwei Jahre. Ob die guten Werte der Grünen so lange anhalten?

Dass den Grünen im Wahlkampf oft die Luft ausgeht, könnte auch mit einer anderen Schwäche zu tun haben: Ihnen fehlt eine breite Mitgliederbasis. Darin unterscheiden sich die Grünen deutlich von SPD und Union. Die beiden Volksparteien verlieren zwar seit Jahren Mitglieder, haben aber immer noch Mitglieder im sechsstelligen Bereich. Die Grünen sind zwar in den vergangenen Jahren leicht gewachsen, standen aber Ende 2018 - dem letzten Zeitpunkt, für den vergleichbare Zahlen für alle Parteien vorliegen - nur bei knapp 75.000 Mitgliedern. Inzwischen sind es etwa 95.000 Mitglieder.

Anmerkung: In einer früheren Version des Artikels fehlte der Hinweis auf den starken Anstieg der Grünen-Mitgliederzahl seit Ende 2018.

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