Süddeutsche Zeitung

Grüne im Wahlkampf:Vorübergehende Höhenflüge

Lesezeit: 4 min

20 Prozent der Wählerstimmen könnten theoretisch reichen für eine grüne Kanzlerin. Aber es ist kein Verlass auf das Volk, es verschenkt seine Gunst sehr launisch. Das zeigt die Vergangenheit und bestätigt die Gegenwart.

Von Markus C. Schulte von Drach, München

Deutlich mehr als 20 Prozent - eine so große Zustimmung haben die Grünen in einem Bundestagswahljahr noch nie erreicht. Genug, um nicht nur mit einer Spitzenkandidatin, sondern mit einer eigenen Kanzlerkandidatin in den Wahlkampf einzutreten.

Dass eine solche Kanzlerin 2021 theoretisch vorstellbar ist, ist allerdings nicht nur ein Erfolg für die Partei selbst. Vielmehr verteilen sich die Stimmen der Bevölkerung inzwischen deutlich gleichmäßiger auf die Parteien als in den vergangenen Jahren. 40 Prozent der Stimmen in Umfragen für eine einzelne Partei - das hat selbst die CDU seit 2017 nur noch in der ersten Phase der Corona-Krise erreicht.

Während es in Frühjahr und Frühsommer dieses Jahres noch so aussah, als sei eine Mehrheit im Bundestag nur mit den Grünen möglich, zeigen die jüngsten Zahlen, dass auch eine schwarz-rot-gelbe Koalition an die Macht kommen könnte. Alternativ wäre noch eine grün-rot-gelbe Koalition unter einer grünen Kanzlerin Annalena Baerbock denkbar, oder eine rot-grün-gelbe unter Olaf Scholz - ein schwerer Dämpfer für die Hoffnungen der Grünen auf eine eigene Kanzlerin.

Bereits 2019 kamen die Grünen auf einen Umfragewert von 27 Prozent

Die Entwicklung zeigt zum einen, wie sehr die Zustimmung zu einer Partei von den Themen abhängt, die die Öffentlichkeit gerade bewegen. Zum anderen lässt sich feststellen: Auch auf diesen Zusammenhang ist nicht wirklich Verlass. Das haben die Grünen mehrfach zu spüren bekommen. Ihre Umfragewerte sind nicht zum ersten Mal so gut. Vor nicht einmal zwei Jahren, Ende September 2019, hätten sogar 27 Prozent die Partei gewählt, wie das "Politbarometer" für das ZDF ermittelte.

Und bereits vor Jahren, vom Herbst 2010 bis zum Sommer 2011, gab jeder fünfte Befragte an, grün wählen zu wollen. In beiden Fällen hingen die guten Werte offenbar damit zusammen, dass Kernthemen der Partei in der Bevölkerung große Bedeutung hatten.

So hatte die Regierung aus Union und FDP nach der Wahl 2009 beschlossen, aus dem noch von Rot-Grün in die Wege geleiteten Atomausstieg wieder auszusteigen und die Laufzeit einiger Kernkraftwerke zu verlängern. Eine knappe Mehrheit in der Bevölkerung lehnte diese Entscheidung ab - und war sich hier einig mit den Grünen. Am 11. März 2011 jedoch kam es im japanischen Atomkraftwerk Fukushima Daiichi zum Super-GAU. Unmittelbar danach stieg die Zustimmung für die Grünen auf bis zu 23 Prozent.

Umfrage-Absturz nach dem Atomausstieg

Nachdem aber die Regierung selbst den Ausstieg aus der Atomenergie beschloss, verlor das Thema an Bedeutung. Die Grünen konnten ihre Werte nicht langfristig halten - für sie ging es wieder abwärts und für die Union aufwärts. Auch für die grüne Wählerschaft so wichtige Ereignisse wie das Auffliegen der Terrorgruppe NSU im November 2011 oder die Enthüllungen des Geheimdienst-Mitarbeiters Edward Snowden 2013 änderten daran nichts.

Was die Bevölkerung vor der Bundestagswahl mehr beschäftigte, waren Arbeitsplätze und soziale Gerechtigkeit - Themen, bei denen die Grünen nicht punkten konnten. Nach einem steilen Absturz in den Umfragen kam die Partei bei der Bundestagswahl 2013 nur noch auf ein mageres Ergebnis von 8,4 Prozent der Stimmen.

Bis zur Flüchtlingskrise 2015 schwankte der Anteil der Grünen-Anhänger der Forschungsgruppe Wahlen zufolge um ähnliche Werte. Danach kam es zu einer Polarisierung der Bevölkerung. Nach Angela Merkels "Wir schaffen das" und sexuellen Übergriffen auf junge Frauen in der Silvesternacht 2015 am Kölner Hauptbahnhof verlor die Union an Zustimmung, während sowohl die AfD als auch die Grünen zulegten - vorübergehend. Bis zur Bundestagswahl 2017 waren die Werte dann wieder in den einstelligen Bereich gefallen.

Unmittelbar nach der Wahl und nach den - gescheiterten - Verhandlungen von Union, Grünen und FDP über eine Jamaika-Koalition ging die Zustimmung für die Grünen wieder in die Höhe. Die Partei hatte ihre Bereitschaft demonstriert, Verantwortung zu übernehmen, sogar gemeinsam mit der FDP. Sie konnte sich 2018 in den Umfragen auf einen Anteil von teils mehr als 20 Prozent verbessern. Für Union und SPD dagegen ging es stetig nach unten, die Sozialdemokraten fielen sogar hinter die Grünen zurück. Es ist naheliegend, dies zumindest teilweise auf die Enttäuschung darüber zurückzuführen, die in Teilen der Bevölkerung darüber herrschte, erneut von einer schwarz-roten Koalition regiert zu werden.

Seit 2018 stabil bei etwa 20 Prozent

2019 profitierten die Grünen offensichtlich besonders von einem wachsenden Klimaschutz-Bewusstsein in der Bevölkerung. Von Beginn des Jahres an wurde das Themenfeld Umwelt/Klima/Energiewende in den Augen der Befragten zum wichtigsten Problem in Deutschland. Angefeuert wurde diese Entwicklung durch die Streiks und Demonstrationen der Schülerinnen und Schüler der Bewegung "Fridays for Future". Auf ihren bislang besten Wert (27 Prozent) kam die Partei, kurz nachdem das "Klimakabinett" der Bundesregierung das "Klimapaket" verabschiedet hatte - die darin beschlossenen Maßnahmen waren von Klimaschützern wie Fridays for Future und etlichen Wissenschaftlern in der Öffentlichkeit heftig kritisiert worden.

Besonders deutlich hat allerdings das Coronavirus gezeigt, wie sehr die Bevölkerung sich in ihrer Präferenz für Parteien von aktuellen Ereignissen beeinflussen lässt. Die Pandemie löste das Thema Umwelt und Klima als wichtigstes Problem fast über Nacht ab. Unmittelbar mit dem Lockdown in Deutschland wuchs die Zustimmung für die Union erheblich an, selbst die SPD konnte ein bisschen zulegen. Inzwischen nähern sich die Umfragewerte der Union allerdings wieder denen von vor der Pandemie. Und die SPD legt sogar weiter zu.

Die Grünen konnten ihre Werte ebenfalls verbessern, nachdem Annalena Baerbock zur Kanzlerkandidatin erklärt wurde. Allerdings nur, bis eine Reihe von Vorwürfen gegen Baerbock wegen ihrer Nebeneinkünfte und abgeschriebenen Buchpassagen publik wurden. Selbst die Flutkatastrophe im Sommer, die der Öffentlichkeit einmal mehr die Dringlichkeit des Klimaschutzes vor Augen geführt hat, hat daran nichts geändert.

Auch wenn also etwa ein Fünftel der Bevölkerung seit 2018 relativ kontinuierlich erklärt, die Grünen wählen zu wollen: Selbst auf diese Anhängerschaft kann sich die Partei bei der Wahl am 26. September wohl nicht verlassen.

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