Schweiz:Keimzelle der Gurken-Grünen

SWITZERLAND AUTUMN

Ein Sonnenaufgang über der Region um Neuchâtel in der Schweiz.

(Foto: dpa)

Warum sind in der konservativen Schweiz die Grünen so erfolgreich? Im Westen des Landes hat sich ein politisches Milieu entwickelt, in dem Dinge möglich sind, die anderswo im Land undenkbar wären.

Von Isabel Pfaff, Neuchâtel

Ging hier alles los? In dem sonnendurchfluteten Café in der Altstadt von Neuchâtel, wo man fair gehandelten Kaffee bekommt, Bio-Bier oder frische Säfte aus Möhren und Ingwer? Fast 40 Jahre alt ist das Café Aubier, und tatsächlich wirkt es ein bisschen so, als wohne hier die grüne Seele der Stadt. Eine Kundin trägt ein gehäkeltes Käppchen, eine andere sitzt vor einer Tasse Tee und strickt. Auf einer Tafel steht: "Nicht weil die Dinge schwierig sind, wagen wir sie nicht - sie sind schwierig, weil wir sie nicht wagen".

Neuchâtel, deutsch Neuenburg, Hauptstadt des gleichnamigen Kantons in der französischsprachigen Westschweiz. Als am Wahlsonntag vor rund zehn Tagen eine grüne Welle auf die Schweiz niederging, schlugen die Wogen hier in der Romandie besonders hoch. Ganze sieben der 17 hinzugewonnenen grünen Sitze im Nationalrat kommen aus den Westschweizer Kantonen. Und die größte Überraschung lieferte Neuchâtel: Hier landeten die Grünen mit mehr als 20 Prozent Wähleranteil nicht nur auf Platz zwei hinter den Liberalen und errangen erstmals einen Sitz im Nationalrat. Aus dem Stand eroberte die grüne Spitzenkandidatin Céline Vara außerdem einen Sitz im Ständerat - eine Sensation. Denn im Ständerat, der kleinen Kammer, in der die 46 Vertreter der Kantone sitzen, kommen Randparteien wie die Grünen oder die rechte SVP selten zum Zug. Céline Vara hat es trotzdem geschafft - und ihren Sitz sogar im ersten Wahlgang geholt. Was ist da in Neuchâtel passiert?

Silbriger Dunst liegt über dem Neuenburgersee, ansonsten ist es an diesem Oktobertag warm und klar. In der Altstadt von Neuchâtel sitzen die Leute draußen und trinken ein Nachmittagsbier, ein paar Kinder schauen einem Seifenblasenkünstler zu, vielen sieht man ihre ausländischen Wurzeln an. Alternative Läden wie das Café Aubier reihen sich aneinander, dazu kleine Crêperien und Antiquariate. Ein bisschen zeigt sich in den Gassen der malerischen Hauptstadt der Charakter des ganzen Kantons: linker, alternativer und migrantischer als die meisten anderen Regionen der Schweiz - und das nicht erst seit gestern.

Neuchâtel ist das Zentrum der Schweizer Uhrenindustrie, ein Arbeiter-Kanton, in dem die Linke traditionell stark ist. Aus diesem Erbe hat sich ein politisches Milieu entwickelt, in dem Dinge möglich sind, die anderswo in der Schweiz undenkbar wären: Beispielsweise erhalten Kantonsangestellte in Neuchâtel vier Wochen Vaterschaftsurlaub - mehr als in allen anderen Kantonen, und deutlich mehr, als auf Bundesebene gewährt wird. Neuchâtel ist neben dem Jura auch der einzige Schweizer Teilstaat, der Ausländern auf Gemeinde- und Kantonsebene das Wahlrecht eingeräumt hat.

Es hat aber auch mit den Westschweizer Grünen selbst zu tun, dass sie bei diesen Wahlen so große Erfolge einfahren konnten. Wer mit der Überraschungssiegerin Céline Vara spricht, versteht, warum.

Vara, 34 Jahre alt, dunkle Mähne, empfängt bestens gelaunt in ihrer Rechtsanwaltskanzlei mitten im Zentrum von Neuchâtel. Ihr Triumph ist noch keine Woche her, mehrere Blumensträuße und eine Magnum-Champagnerflasche zieren ihr Büro. "Incroyable", unglaublich, ist immer noch das häufigste Wort, das sie sagt, wenn es um den Wahlsonntag geht. Vara hat sowohl für den Nationalrat als auch für den Ständerat kandidiert. Dass es in der kleinen Kammer klappen könnte, hätte sie sich nicht träumen lassen. Aber dann denkt sie kurz nach und relativiert: "Es ist einfach auch das Ergebnis langer, harter Arbeit."

Nichts an ihr wirkt besonders links oder alternativ

Tatsächlich sind die Grünen schon lange präsent im Kanton Neuchâtel, hier liegen sogar ihre Wurzeln: 1972 erzielte hier erstmals eine grüne Partei namens "Mouvement populaire pour l'environnement" Erfolge bei Gemeindewahlen. Seither arbeiten sie mit, in den Gemeinden, im Kanton. Dort lief es schon in den vergangenen Jahren sehr gut für die Grünen. "Wir haben hier eine Geschichte, und das sehen die Leute", sagt Céline Vara. Was die Leute auch sehen: Vara ist keine traditionelle Grüne. Zwar kämpft sie gegen Pestizide, will Neuchâtel zum ersten pestizidfreien Kanton der Schweiz machen. Die Gemeinde, in der sie vier Jahre lang Gemeinderätin war, wird durch einen Vorstoß von ihr wohl bald ein Bio-Label bekommen.

Doch nichts an Vara wirkt besonders links oder alternativ. Sie ist Anwältin und entsprechend nobel gekleidet, besitzt ein Auto, hält nichts von Flugverboten. Eine typische "Gurken-Grüne", wie man in der Schweiz sagt: außen grün, innen grün - im Gegensatz zu den linken "Melonen-Grünen": außen grün, innen rot. In der Romandie sind die Grünen in der Regel wie Vara, also gemäßigter und wählbarer für die gesellschaftliche Mitte. Kein Zufall also, dass es eine Westschweizer Grüne ist, die auf Anhieb den Sprung in den Ständerat geschafft hat. Dort geben Mitte-Parteien den Ton an.

Céline Vara wird mit 34 Jahren eine der jüngsten Ständerätinnen sein. "Dabei gehöre ich hier in unserer Partei schon lange nicht mehr zu den Jungen." Die Grünen hätten im Gegensatz zu den meisten anderen Parteien kein Nachwuchsproblem, sagt Vara, hinter ihr stünde schon die nächste Kohorte bereit. Darin sieht sie den eigentlichen Schlüssel zum jüngsten Wahlerfolg: Junge Grüne hätten andere Junge an die Urne bewegen können, die vorher nicht gewählt haben. "Das sehen wir ganz klar in unseren Zahlen: Junge Wähler in Neuchâtel haben für uns gestimmt."

Bleibt die Frage: Warum waren die Grünen nicht nur in Neuchâtel, sondern in der gesamten Westschweiz so erfolgreich? Céline Vara muss nicht lange überlegen. "Die Deutschschweizer und wir, wir denken einfach unterschiedlich." Das sehe man bei Abstimmungen, das zeige sich bei Wahlen: "Wir wählen nicht dasselbe."

Tatsächlich war die rechtskonservative SVP - insgesamt stärkste politische Kraft in der Schweiz - in den sieben Kantonen, die ganz oder teilweise zur Romandie gehören, nie so stark wie in der Deutschschweiz. "Röstigraben" nennen die Schweizer diesen politischen Spalt, der sich durchs Land zieht und bei Umfragen und Abstimmungen immer wieder sichtbar wird.

Endlose Debatten zwei Wochen Vaterschaftsurlaub

Eine Folge der je eigenen sprachlich-kulturellen Prägung: Während die Deutschschweizer eher als sparsam, eigenbrötlerisch und staatsfern gelten, haben die Romands weniger Probleme mit einem starken Staat und gelten als politisch offener. Entsprechend haben linke Parteien schon lange ein größeres Potenzial in der Westschweiz. Kommt dann noch eine weltweite Klimabewegung ins Spiel, ergibt sich die grüne Welle in der Romandie fast schon von allein.

Nun wollen Céline Vara und ihre Mitstreiter aus Genf, der Waadt und dem Wallis grüne Anliegen in Bern durchsetzen - mehr Klima- und Umweltschutz, aber auch eine modernere Familienpolitik. Vara glaubt, dass es kein Zufall war, dass bei diesen Wahlen relativ viele junge Frauen ins Parlament gewählt wurden, einige mit Kindern. Auch sie hat eine zweijährige Tochter. "Viele fühlten sich von dem alten Parlament nicht mehr vertreten", sagt sie und schimpft über die endlosen Debatten über die Einführung von zwei Wochen Vaterschaftsurlaub. Vara ist sich sicher: "Durch die ganze Schweiz weht ein anderer Wind."

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