Süddeutsche Zeitung

Grüne Basis:Regieren schmerzt

Waffenlieferungen, Kohlestrom, Futteranbau auf ökologischen Ausgleichsflächen - und bald vielleicht auch noch längere Laufzeiten für Atomkraftwerke. Die Grünen haben sich in der Regierung von einigen Glaubenssätzen verabschiedet. Was die Basis davon hält.

Von Max Ferstl, Gianna Niewel und Christian Wernicke

Grüne an der Macht, das hatte sich Philipp Noack anders vorgestellt. Jedenfalls nicht mit längerer Laufzeit für Atommeiler, wiederbelebten Kohlekraftwerken - und schon gar nicht mit mehr Waffen und neuer Aufrüstung. "Dieser beschissene Krieg bringt uns in eine schwierige Lage", sagt der 29-jährige Aachener, "aber wir dürfen uns nicht spalten lassen. Genau das will Putin ja." Mit diesem "Wir" meint Noack die Deutschen. Und erst danach seine Grünen. Noack nämlich befürchtet, Rechtsextreme und sogenannte Querdenker könnten gegen die westlichen Sanktionen und deren Folgen im Winter eine neue Protestwelle anzetteln. Es folgt wieder ein "Wir" - aber diesmal ein tiefgrünes: "Wir waren es ja nicht, die das Land in diese Abhängigkeit vom russischen Gas geführt haben", sagt er, "aber ich bin froh, dass wir diese Krise managen - und nicht andere."

Ist die grüne Welt also in Ordnung - trotz des Krieges und all der Zumutungen aus Berlin? Wo die Grünen ein Sondervermögen für die Bundeswehr, den Tankrabatt und eine Mehrwertsteuersenkung auf Gas mittragen, wo Wirtschaftsminister Robert Habeck LNG-Terminals im Eiltempo bauen lässt, wo der grüne Landwirtschaftsminister Cem Özdemir genehmigt, dass ökologische Vorrangflächen bewirtschaftet werden dürfen?

Die Grünen machten in Berlin das Beste aus dem Möglichen, auch wenn's die Parteiseele quält, findet Noack. "Dafür gibt es an der Basis viel Wohlwollen, nicht nur bei den Mitgliedern, auch bei den Wählern." Das hat er hautnah erfahren, als er vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen Mitte Mai als Kandidat in einem aussichtslosen Wahlkreis östlich von Aachen auf rheinischen Marktplätzen stand: "Da gab es enorm viel Zustimmung für Habeck und Baerbock." Und als Lohn 18,2 Prozent - grüner Rekord an Rhein und Weser.

Und doch, regieren schmerzt. "Gerade unsere älteren Mitglieder, die aus der Friedensbewegung stammen, hadern mit den Waffenlieferungen an die Ukraine. Und mit der Aufrüstung." 100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr, da ächzt auch Noack, der gerade seine Masterarbeit als Sozioökonom schreibt. So viel Geld würde er lieber in moderne Infrastruktur investieren. Oder in die Energiewende, oder in ein neues Neun-Euro-Ticket. "Aber da blockieren uns der Lindner und seine Liberalen, die an der Schuldenbremse festhalten und jede Steuererhöhung ablehnen." Der Zorn an der grünen Basis ziele auf die anderen Farben der Ampel - auf die Gelben, und auf den Roten ganz oben: "Mit wie viel die FDP davonkommt, ist eine Frechheit", schimpft Noack, "dass da kein Machtwort von Olaf Scholz fällt, dem selbsternannten Klimakanzler ..." Kopfschütteln.

Ein innerparteilicher Konflikt droht den Grünen in Nordrhein-Westfalen beim Thema Kohle. Einer, den Putins Krieg zumindest verschärft hat. Ab Oktober möchte der Energiekonzern RWE die Braunkohle unter dem Weiler Lützerath nahe Aachen abbaggern - um Kohlekraftwerke zu befeuern, mit denen der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck den Strom aus Gas reduzieren will. "Lützerath ist ein Kristallisationspunkt unserer Klimabewegung", sagt Noack, "wenn die Räumung beginnt, werde ich da sein!" Vielleicht nicht in der ersten Reihe der Sitzblockade, aber wenigstens als Koch oder Fahrer wolle er aushelfen. "Den Konflikt mit der Parteiführung halte ich aus", glaubt Noack, "und die auch."

Auch Sandra Schumacher, grünes Mitglied im Rat der Stadt Essen, hat schon in Lützerath demonstriert. Wichtiger jedoch als dieser symbolträchtige Konflikt ist der ehrenamtlichen Kommunalpolitikerin und Orchestermusikerin der Essener Philharmonie, dass der Kohleausstieg 2030 nicht wackelt. Dass jetzt kurzfristig mehr Kohle- und Atomstrom benötigt werde, sei zwar "nicht schön - aber wir tragen Verantwortung. Unsere Leute in Berlin machen das gut". Der Großteil der Mitglieder in Essen, so versichert Schumacher, trage den Regierungskurs mit.

Ja, es habe "harte Diskussionen" gegeben im Kreisverband, als der Krieg ausbrach: "Die Lieferung von Waffen war ein Angriff auf unser Selbstverständnis." Die 40-jährige Künstlerin bedauert das - aber mehr noch ist sie stolz auf den grünen Realismus: "In diesen Zeiten müssen wir Glaubenssätze auf den Prüfstand stellen - und unsere Politik der Wirklichkeit anpassen." Weshalb Sandra Schumacher nun sagt: "Frieden mit Waffen - anders scheint es gegen Putin nicht zu gehen."

Mehr Mut in der Regierung, mehr Konter vor allem auf Forderungen der FDP, wünscht sich Lara Klaes von ihrer Partei. Sie ist Sprecherin der Grünen Jugend in Hessen, wo die Grünen gemeinsam mit der CDU regieren. Wie im Bund ist es auch hier die junge Parteiorganisation, die der eigenen Regierungsmannschaft immer mal wieder Druck macht. In Berlin hat die Bundessprecherin der Grünen Jugend, Sarah Lee-Heinrich, dem Wirtschaftsminister gerade vom Spiegel Kritik ausrichten lassen: "Die Gasumlage war von Anfang an der falsche Weg", sagte sie da. "Es kann nicht sein, dass die Gesellschaft jetzt die Verluste tragen soll, während viele Unternehmen in dieser Krise Übergewinne gemacht haben."

Natürlich forderten die Krisen die Partei enorm, und natürlich bedeuteten Krisen immer auch, dass man die eigene Haltung hinterfragen müsse, sagt Lara Klaes. Aber dass eine Partei, die sich in den 1980er-Jahren auch aus Mitgliedern der Anti-Atomkraft-Bewegung gegründet hat, ernsthaft über eine etwaige Verlängerung von drei Atommeilern diskutiert? Für Klaes, 25 Jahre alt, ist das mehr als nur ein persönlicher Stresstest, es ist "ein No-Go", nicht nur, weil die drei Meiler nur einen geringen Anteil an der Nettostromerzeugung haben, sondern auch, weil das Problem der Endlagerung nach wie vor ungelöst ist. Ebenso wie die Debatten um die besonders klimaschädlichen Kohlekraftwerke schieße das "an der Realität der Klimakrise vorbei".

Hinzu kommt: Die Umfragen für die Grünen sind gerade gut, vor allem die persönlichen Werte für Robert Habeck und Annalena Baerbock. Auch deshalb wünscht sich die Sprecherin der Grünen Jugend, dass die Bundespartei nicht vergisst, woher die Grünen kommen und wie wichtig grüne Politik gerade jetzt ist. Und eben ein selbstbewussteres Eintreten für grüne Inhalte in der Regierung.

In Rheinland-Pfalz teilt Dominik Heinrich grundsätzlich die Einschätzung seiner Parteikollegin. Er sitzt schon so lange im Trierer Stadtrat, dass er erst einmal überlegen muss. Zehn Jahre, zwölf? Jedenfalls lange genug, um sagen zu können, dass man natürlich nicht immer zu 100 Prozent mit allem einverstanden ist, was die Partei so macht. Heinrich sagt, was gerade in Berlin passiere, sei ein "schwerer Abwägungsprozess", Pause, "man muss die ein oder andere Kröte schlucken". Nur, wie viele genau? Heinrich sagt, er sei eher realpolitisch und sehe vieles pragmatisch. Bei den Atomkraftwerken etwa gehe es nicht um eine Rückkehr zur Atomkraft, sondern lediglich darum, ob die Laufzeit verlängert werden solle. Alles nicht ideal, aber was ist schon ideal gerade? Wenn er sich was wünschen könnte von der Bundespartei, dann dass sie die soziale Frage bei allem mitberücksichtigt. Also dass die Pakete, die gerade geschnürt werden, vor allem denen zugutekommen, die wenig Einkommen haben - und nicht denen, die ohnehin schon viel haben, wie etwa beim Tankrabatt. Aber ansonsten: große Zufriedenheit damit, wie sich die Partei gerade schlägt.

Was Pragmatismus angeht, lohnt ein Blick in den Südwesten des Landes, wo Ina Schultz lebt. Sie ist 2016 bei den Grünen eingetreten und sagt, dass sie die Partei gar nicht anders kenne als pragmatisch. In Baden-Württemberg, wo die Partei seit elf Jahren den Ministerpräsidenten stellt, sind sie vielleicht noch ein bisschen pragmatischer als anderswo. "Wir wollen erfolgreich sein", sagt Schultz vom Kreisverband Sigmaringen. Und dazu gehöre, auch mal Entscheidungen zu treffen, die nicht der reinen Lehre des Parteiprogramms entsprechen. Schultz rechnet sich selbst zum Realo-Flügel der Partei, aber soweit sie es für ihren Kreisverband beurteilen kann, gibt es gerade "kein Grummeln an der Basis".

Das ist zumindest bemerkenswert. In Neckarwestheim bei Heilbronn steht eines der drei Atomkraftwerke, die womöglich länger laufen könnten, sollte der aktuelle Stresstest zu dem Ergebnis kommen, dass es die Atomkraft braucht, um einigermaßen über den Winter zu kommen. Deshalb stellt sich die Laufzeitfrage in Baden-Württemberg besonders drängend. Die grüne Basis im Südwesten scheint eine Antwort gefunden zu haben: Einen Streckbetrieb, der die bereits vorhandenen Brennelemente nutzt, könnten die meisten wohl akzeptieren, wenn auch manche nur unter Schmerzen. Wenn Deutschland allerdings neue Brennstäbe bestellt und die Reaktoren noch Jahre weiterlaufen, dann wäre eine Grenze überschritten. "Es muss ein klares Ende haben", sagt Schultz.

Der kommende Winter ist für viele Deutsche bislang vor allem eine Drohung, man hofft, dass es schon nicht so schlimm werden wird. Alex Maier muss gerade allerdings mit dem Schlimmsten rechnen, geht nicht anders. Maier ist seit Januar 2021 Oberbürgermeister von Göppingen und muss sich jetzt zum Beispiel darum kümmern, dass es in der Stadt genügend Wärmehallen gibt für das Szenario, dass die Wärmeversorgung ausfällt. Schwimmbäder kommen infrage - oder Schulturnhallen, die noch mit Öl geheizt werden. "Verrückt", sagt Maier. Angesichts dieser Lage habe er "keine großen Schmerzen" mit den jüngsten Entscheidungen seiner Partei, auch wenn sie an die grüne DNA gehen. Waffenlieferungen, Atom-Debatte, klar, sagt Maier, "ich bin unglücklich über diese Dinge". Welcher Grüne sei das nicht? Nur: Ideologisch zu argumentieren, helfe niemandem weiter. So sieht er das. "Wenn man in Verantwortung ist, muss man anhand der Fakten entscheiden." Das gelänge den Grünen gerade ziemlich gut.

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