Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat schon des Öfteren versucht, die grüne Bundespartei auf seinen Superrealo-Kurs zu bringen. Im Bundestagswahlkampf 2013 etwa warnte er vor den Steuererhöhungen, die seine Partei im Wahlprogramm hatte. Die Begeisterung über die Intervention aus Stuttgart hielt sich, gelinde gesagt, in Grenzen.
Ein Jahr später ermöglichte Kretschmanns Regierung im Bundesrat einen Asylkompromiss, der Serbien, Bosnien-Herzegowina und das heutige Nordmazedonien als sogenannte sichere Drittstaaten deklarierte. Damit konnten Asylanträge aus diesen Ländern fortan leichter als unbegründet abgelehnt werden. Kretschmanns Parteifreunde in Berlin schäumten, sogar von Verrat war die Rede.
Vor der Bundestagswahl 2021 sprach sich der einzige grüne Ministerpräsident mehrfach dafür aus, Robert Habeck zum grünen Kanzlerkandidaten zu küren. Die Partei zog dann bekanntlich mit Annalena Baerbock in den Wahlkampf, die Kanzlerschaft gewann sie nicht.
Migration habe „die Kraft, unser Land zu spalten“, warnt Kretschmann
Man kann also nicht behaupten, dass Kretschmanns Versuche, die Partei auf seine Linie einzuschwören, von durchschlagendem Erfolg geprägt wären. Trotzdem tritt er an diesem Mittwochmorgen im Stuttgarter Landtag mit einer Botschaft ans Rednerpult, die auch an seine Partei gerichtet ist. Es ist 9.15 Uhr. Eine gute Stunde später wird öffentlich, dass der Bundesvorstand der Grünen zurücktritt. Es ist vielleicht nicht gerade das, was sich Kretschmann als Begleitmusik für seine Rede gewünscht hätte.
„Sicherheit stärken, Migration ordnen, Radikalisierung vorbeugen“, steht über dem Manuskript der „Regierungsinformation“, die das Staatsministerium kurzfristig auf die Tagesordnung des Parlaments gesetzt hat. Die Migration, sagt Kretschmann nun, habe „die Kraft, unser Land zu spalten, sie hat die Kraft, ganz Europa zu spalten“. Das dürfe man nicht zulassen, und deshalb gehe es darum, „die irreguläre Migration zu begrenzen“.
An dieser Stelle wird die Rede von lautem Applaus unterbrochen, und wenn der Eindruck nicht täuscht, klatschen die Abgeordneten der CDU, Kretschmanns Koalitionspartner, etwas enthusiastischer als die Abgeordneten der Grünen. Selbstverständlich, fährt der Ministerpräsident fort, stehe das individuelle Recht auf Asyl nicht zur Disposition, und natürlich brauche Deutschland gut ausgebildete Menschen, „die unseren Arbeitsmarkt in Zeiten des demografischen Wandels entlasten“. Jetzt klatschen auch die Grünen-Abgeordneten mit Verve.
Gefährder und Gewalttäter sollen schneller abgeschoben werden
Anlass der Rede ist ein neues Sicherheitspaket. Als Reaktion auf die islamistischen Attentate von Solingen und Mannheim sollen die Sicherheitsbehörden des Landes mehr Geld, Personal und Befugnisse erhalten. Zusätzliche Kräfte bekommt der Sonderstab „Gefährliche Ausländer“, der in Baden-Württemberg die Abschiebung von Gefährdern und Gewalttätern beschleunigen soll. Unter dem Dach des Landeskriminalamts schafft die Koalition ein neues Staatsschutz- und Anti-Terrorismus-Zentrum. Mobile Beratungsteams sollen in Flüchtlingsunterkünften eingesetzt werden, um für die Gefahren des Islamismus zu sensibilisieren.
Als Blaupause dient Baden-Württemberg das Maßnahmenpaket, das Nordrhein-Westfalen nach Solingen beschlossen hat. Gemeinsam mit den beiden schwarz-grünen Regierungen von NRW und Schleswig-Holstein will sich Baden-Württemberg im Bundesrat für beschleunigte Verfahren für Geflüchtete aus Ländern mit einer Anerkennungsquote von unter fünf Prozent einsetzen.
Inoffizieller Adressat der Rede ist auch die grüne Bundespartei, die Kretschmann erneut nicht auf Kurs wähnt. Nach Gründen für das katastrophale Abschneiden bei den jüngsten Landtagswahlen gefragt, hat der Schwabe seiner Partei jüngst geraten, sich an „die eigene Nase“ zu fassen. Einen konkreten Tipp hatte er auch parat: „Die Partei muss in ihrer Gänze in der Migrationsfrage klar sein.“ Im Landtag buchstabiert Kretschmann nun aus, wie diese Klarheit aussehen soll. Wer behaupte, das Thema Migration werde nur hochgeschrieben, um von anderen Problemen abzulenken, „verkennt, wie groß die Herausforderung tatsächlich ist“.
Die CDU liegt in Baden-Württemberg in Umfragen inzwischen vor den Grünen
Möglicherweise hofft Kretschmann, mit seiner Position diesmal bei der Bundespartei Gehör zu finden. Schließlich stecken die Grünen in einer tiefen Krise, und in Stuttgart finden sie, dass man sich in so einer Situation durchaus mal das baden-württembergische Erfolgsrezept anschauen könne.
Ziemlich sicher aber versucht Kretschmann auch, die Restchancen für Cem Özdemir zu wahren. Bereits im Oktober, so sehen es interne Planspiele vor, will der Bundeslandwirtschaftsminister seine Bereitschaft erklären, 2026 als grüner Spitzenkandidat in die Landtagswahl zu ziehen. Die Umstände könnten allerdings erfreulicher sein.
Zwar stehen die Kretschmann-Grünen in Umfragen besser da als die Bundespartei, aber die Aussichten, auch künftig den Regierungschef zu stellen, sind sehr eingetrübt. In den Prognosen eilt die CDU den Grünen davon, der Abstand beträgt aktuell zehn Prozentpunkte.
Und CDU-Landeschef Manuel Hagel flirtet bereits offensiv mit dem FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke. In seiner Rede im Stuttgarter Landtag greift Rülke die Berliner Turbulenzen mit sichtlichem Vergnügen auf. An Kretschmann gewandt fragt er: „Ist der Rücktritt des grünen Bundesvorstands Teil Ihres Sicherheitspakets?“