Politische Theorie:Sind die Grünen die neuen Liberalen?

Lesezeit: 3 Min.

Deutschland fehlt nichts so sehr wie die integrierende Kraft eines gelassenen Liberalismus. (Foto: dpa)

Der Liberalismus schützt den Einzelnen vor der Macht von Staat und Konzernen. Die Freiheit des Individuums ist sein höchstes Gut. Was früher klassische FDP-Programmatik war, übernehmen jetzt die Grünen - und sie müssen diesen Raum nutzen.

Kommentar von Josef Kelnberger

Schwer zu sagen, wer gerade den größeren politischen Einfluss in Deutschland hat, die FDP oder der Deutsche Wetterdienst, der Liberalismus oder die Meteorologie. Mit seiner Warnung, das Land stehe möglicherweise vor einem weiteren Dürresommer, hat der Wetterdienst jedenfalls diese Woche kurz vor dem FDP-Parteitag deutlich gemacht, wie weit die Freien Demokraten in Sachen Klimapolitik dem Geist der Zeit hinterher sind.

Welcher Parteichef derzeit größeren Einfluss hat, Christian Lindner (FDP) oder Robert Habeck (Grüne), ist deshalb leicht zu beantworten. Abgesehen davon, dass Habeck nun als so cool gilt wie vor einiger Zeit Lindner, hat er für seine Partei eine politische Formel gefunden, die momentan unschlagbar ist: das grüne Projekt einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft in der Tradition von Ludwig Erhard. Das ist, genau betrachtet, ein Griff nach dem liberalen Erbe von FDP und CDU.

Trittin über Kurs der Grünen
:"Radikalität ist die Voraussetzung für Konsens"

Die Grünen wollen mit einem neuen Grundsatzprogramm für noch mehr Wähler und politische Partner attraktiv werden. Droht jetzt die Beliebigkeit? Ein Gespräch mit dem früheren Parteichef Jürgen Trittin.

Interview von Stefan Braun und Constanze von Bullion

Man könnte es als Akt historischer Gerechtigkeit betrachten, würden die Grünen nach ihrem jahrzehntelangen Kampf für Umweltschutz in der nächsten Bundesregierung den Umbruch federführend gestalten, der dem Land bevorsteht. Es gilt, Ökologisierung und Digitalisierung zu moderieren und das Wohlstandsversprechen für alle zu erneuern, das Ludwig Erhard einst gab. Die Frage ist nur, ob die Grünen begriffen haben, welches Erbe sie da verwalten. Die Freiheit des Einzelnen und der freie Markt bilden den Kern der Lehre Erhards; der Staat hat nur den Rahmen zu setzen für fairen, sozial- und umweltverträglichen Wettbewerb. Enteignung von Immobilienkonzernen und sonstige Anfälle von Populismus, die von den Grünen noch manchmal zu hören sind, passen nicht dazu.

Liberalismus braucht keine Bindung an Heimat, Herkunft, Kollektiv oder Religion

Die Partei hat viele Wurzeln, von libertär bis marxistisch, von Kretschmann bis Trittin. Es gibt führende Grüne, die es, anders als Habeck, für eine "Verzwergung" hielten, sich als liberal zu definieren. Daraus spricht Hybris gegenüber einer politischen Lehre, die den Unterschied ausmacht zur "illiberalen" Demokratie, wie sie in Europa immer populärer wird.

Der Liberalismus schützt in seiner Theorie den Einzelnen vor der Macht von Staat und Konzernen. Die Freiheit des Individuums ist sein höchstes Gut, der einzelne Mensch der Ausgangspunkt jeglicher Politik. Der Liberalismus braucht keine Bindung an Heimat, Herkunft, Kollektiv, Religion. Er tritt ein für Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat, sein oberster Orientierungspunkt ist die Verfassung. Er ermöglicht es den Bürgerinnen und Bürgern, sich am Diskurs in einer offenen Gesellschaft zu beteiligen und traut ihnen zu, die Werte der Verfassung zu leben. Das ist klassische FDP-Programmatik. Doch hat die Partei ihr Erbe verlottern lassen.

Die Freien Demokraten waren Avantgarde Anfang der Siebzigerjahre, mit ihren "Freiburger Thesen". Als erste Partei entdeckten sie den Schutz der Umwelt als Thema, erkannten ihn genauso wie eine materielle Grundsicherung als Voraussetzung für individuelle Freiheit an. Lindner versucht, daran anzuknüpfen, aber seine Partei hat ein Glaubwürdigkeitsproblem. Leidenschaft scheinen die Freien Demokraten nur zu entfalten, wenn es um die Freiheit des Autofahrers geht.

Für die Grünen bietet der Liberalismus in seiner Menschenfreundlichkeit viele Anknüpfungspunkte. Misstrauen gegenüber Staat und Konzernen, das Streben nach Freiheit und gesellschaftlicher Teilhabe sind Leitmotive ihrer Politik. Ihre Themen - vom Umweltschutz bis zu den Rechten von Frauen, Homosexuellen, Minderheiten - sind mehrheitsfähig geworden. Bei Umfragewerten von 20 Prozent stellt sich deshalb die Frage, wie weit sie als eine den Staat prägende Kraft in die Gesellschaft hinein regieren würden.

Doch dann geisterte kürzlich, wie eine Erinnerung an Veggie-Day-Tage, die Idee eines grünen Abgeordneten durch die Medien, der Staat solle die Zahl privater Flugreisen kontingentieren. Die Parteiführung hielt Abstand, beim Klimaschutz will man sich nicht mehr so plump als Partei der Bevormundung geben. Umso überraschender ist, dass Habeck beim Thema Wohnungsnot den Linken gab. Enteignung mag als letztes Mittel gegen Wohnungsnot geeignet sein, aber den Eindruck zu erwecken, man könne Spekulanten durch Enteignung bestrafen, ist ebenso populistisch wie der Spruch, Wohnen sei kein Markt, sondern ein Recht. Wohnen ist beides, den Widerspruch sollte eine liberale Partei aushalten.

Ein grüner Liberalismus würde Brücken schlagen

Moral ist Triebfeder grüner Politik, ihr Segen und ihr Fluch. Wer so lange für Gleichberechtigung gekämpft hat, mag auf die Idee kommen, der Staat solle durch einen Eingriff ins Wahlrecht sicherstellen, dass in den Parlamenten Männer und Frauen in gleicher Zahl das Volk repräsentieren. Aber selbst wer das Ziel der Parität teilt, muss erkennen: Die Idee steht konträr zum liberalen Geist des Grundgesetzes. Mit erstaunlichem Desinteresse für verfassungsrechtliche Bedenken verfolgen die Grünen dennoch den Plan.

Ein grüner Liberalismus würde sich dem feministischen Klischee des alten weißen Mannes als Ursprung allen Übels widersetzen. Er würde Brücken schlagen in einer Gesellschaft, in der sich die Menschen immer mehr durch ihre Identität, ihre Zugehörigkeit zu einer im Zweifelsfall benachteiligten Gruppe definieren. Doch in der moralisch aufgeladenen Welt der Grünen gelten fremde Positionen schnell als interessengeleitet und reaktionär. Der moralische Kampfmodus hat den Grünen gerade in Abgrenzung zur AfD viel Zustimmung beschert, er trägt aber auch dazu bei, die Gesellschaft zu polarisieren.

Freiheitliche Politik betrachtet die Gesellschaft nicht als moralische Besserungsanstalt. Sie nimmt hin, dass nicht alles politisch Wünschenswerte herbeigeplant und herbeiregiert werden kann, sie toleriert fremde Lebensentwürfe und Lebenswelten. Diesem Land fehlt nichts so sehr wie die integrierende Kraft eines gelassenen Liberalismus.

© SZ vom 27.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusRobert Habeck
:Grüner Aufsteiger

Robert Habeck ist seit einem Jahr Vorsitzender der Grünen. Er wird viel bejubelt, doch hat er das Zeug, mehr zu sein als der Liebling des Publikums? Unterwegs mit einem Mann, der sich beweisen will.

Text von Constanze von Bullion, Fotos von Regina Schmeken

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: