Grüne:Ins Risiko

Nur wenn es der Partei gelingt, nicht nur Kompromisse zu schließen, sondern auch mal anzuecken, bleibt sie unverwechselbar und unverzichtbar.

Von Constanze von Bullion

Neun Monate vor ihrem 40. Geburtstag haben die Grünen sich eine Sause spendiert, eine Vorab-Geburtstagsparty sozusagen. Zwei Tage lang haben die Spitzenleute der Partei sich in Berlin von ihrer Basis feiern lassen, haben Zukunftsfragen gewälzt und einen Zwischenbericht für ein neues Grundsatzprogramm vorgelegt. Nächstes Jahr soll es fertig werden, zum Geburtstag. Wohin die Reise hingeht? In Umfragen: nach oben. Programmatisch: in die Breite. Ansonsten aber: ins Risiko. Denn auch für die Bündnisgrünen gibt es Grenzen des Wachstums. Sie könnten früher erreicht sein, als der Partei lieb ist.

Zunächst allerdings ist Staunen erlaubt über den Erfolg dieser kleinen Partei, die es in knapp 40 Jahren von einem Hippietrupp zu einer staatstragenden Partei gebracht hat. Die Grünen galten in den Augen der alten Bundesrepublik zunächst als Öko-Spinner, Sympathisanten linken Terrors, hysterische Frauen, die im politischen Establishment nichts verloren hatten - oder aus selbigem möglichst zügig wieder zu entfernen waren. Geworden ist daraus bekanntlich nichts.

Alte Feindbilder wie Technik, Militär, Marktwirtschaft? War alles gestern

Die Partei hat sich festgesetzt, und zwar im Allerheiligsten der bürgerlichen Gesellschaft, ausgerechnet: bei der Moral und bei vormals preußischen Tugenden wie Selbstbeschränkung und Konsumverzicht. Auch das Feld der Nächstenliebe, das Sozialisten zu einem Kampf für die entrechteten Massen umdeuteten, hat die Partei besetzt. Ohne staatliche Garantien für die Schwächsten, so ihr neues Credo, sei die Demokratie, ja sei Europa nicht zu retten vor den Rechtspopulisten. Alte Feindbilder wie Technik, Marktwirtschaft, Sicherheit, militärische Verteidigung? War alles gestern, steht im Bericht zum neuen Grundsatzprogramm.

Die Grünen wollen "raus in die Breite der Gesellschaft", so hat Parteichefin Annalena Baerbock es am Wochenende formuliert. Man könnte es auch anders ausdrücken. Die Partei will für fast alle wählbar werden. Und sie hält sich bis zur nächsten Bundestagswahl sämtliche Bündnisoptionen offen, von der AfD mal abgesehen. Im vorläufigen Grundsatzprogramm haben die Grünen für alle möglichen künftige Partner Köder ausgelegt. Auf die Union wartet da ein solides Wertepaket - und Balsam für die migrationsgeplagte Seele. Denn wer fürs Klima kämpft, rettet bei den Grünen nicht mehr nur den Eisbären, sondern auch Deutschland vor Klimaflüchtlingen. Für SPD und Linke gibt es starke Töne zum Thema Gerechtigkeit. Und selbst die ungeliebte FDP kann fündig werden, beim grünen Ja zu Marktwirtschaft und neuen Technologien.

Offenheit ist strategisch klug in Zeiten, in denen die Parteienlandschaft zersplittert und den Volksparteien die Kraft ausgeht. Und das Publikum? Findet das Prinzenpaar Annalena Baerbock und Robert Habeck sexy. Die Grünen, die mit gerade mal 8,9 Prozent in den Bundestag eingezogen sind, nähern sich in Umfragen der 20-Prozent-Marke. Auf den Straßen schlagen Schüler Klimaalarm. Und der Nicht-mehr-Dichter Habeck wird schon vorbeugend ins Kanzleramt hochgejubelt. So viel Zuspruch aber hat seinen Preis. Mit jedem Prozentpunkt, den die Partei in Umfragen aufwärts segelt, entfernt sie sich ein Stück von den Quellen ihres Erfolgs.

Es war die Journalistin Ferda Ataman, die beim Konvent am Wochenende den Finger in eine Wunde legte. Der Entwurf des Grundsatzprogramms lese sich wie das "Programm einer weißen Partei", sagte sie. Grüne Urgestalten wie Claudia Roth muss das wie ein Kugelblitz getroffen haben. Denn Ataman hat recht. Zwar wird im grünen Programmentwurf Sorge darüber geäußert, dass Muslime, Juden oder schwarze Menschen zunehmenden Angriffen ausgesetzt sind. Die Angegriffenen aber, das sind die anderen. Die Grünen zählen sich offenbar nicht dazu.

Im Wir der Generation Baerbock und Habeck hat Fürsorge für Flüchtlinge Platz. Der Schulterschluss mit Einwandererkindern der zweiten und dritten Generation aber, die nicht nur Opfer, sondern auch Akteure sind gegen rechte Hetze - er fehlt. Überhaupt kommt das Thema Einwanderung seltsam leise daher. Offenbar will die Grünen-Spitze sich nicht dem alten Multikulti-Vorwurf aussetzen, schon der Wahlen in Ostdeutschland wegen. Ganz vorn gegen den Rechtstrend zu kämpfen aber und gleichzeitig jedermanns Liebling zu sein, das funktioniert nicht.

Nur wenn es den Grünen gelingt, unbequem zu sein, ein Stachel im Fleisch der gesamtdeutschen Gesellschaft, werden sie unverwechselbar bleiben und unverzichtbar - also alles, was etwa die Volkspartei SPD nicht mehr ist. Dass die Partei einfach immer weiter wachsen kann, um irgendwann in die Sessel der Bundesregierung zu plumpsen, ist Illusion. Ob Migration, Digitalisierung, Geschlechtergerechtigkeit oder Sicherheit - überall ist da jetzt die Kunst des Kompromisses gefragt, aber eben auch der Mut anzuecken. Die alten Grünen konnten eigentlich nur das: provozieren, sich abseitsstellen. Die Neuen dürfen es öfter mal wagen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: