Süddeutsche Zeitung

Parteitag in Bielefeld:Für die Grünen beginnt die Zeit der Prüfung

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Die Partei strotzt vor Einheit und Selbstbewusstsein, das Paar an der Spitze strahlt. Aber vieles ist nur Überschrift, gefühlte Klarheit.

Kommentar von Stefan Braun

Zwei Politiker übernehmen den Vorsitz einer Partei, kennen sich selbst kaum und haben gemeinsam doch das große Ziel, dieser Partei einen neuen Habitus zu verpassen. Einen, der nicht aggressiv, laut, abgrenzend, also selbstgerecht wirken darf, sondern im Gegenteil den großen Brückenschlag zu anderen möglich machen soll. Zwei Jahre später haben sich die Umfragewerte verdoppelt, die eigene Truppe gibt sich einigermaßen beseelt, und die beiden werden mit einem Wahlergebnis ausgestattet, von dem ihre Vorgänger nur träumen konnten. Dass Annalena Baerbock und Robert Habeck auf dem Parteitag der Grünen mit 90 Prozent und mehr wiedergewählt wurden, ist eine triumphale Bestätigung ihres Kurses. Selten ist es einer Parteiführung gelungen, so schnell so viel Geschlossenheit zu erzeugen.

Bei den Grünen ist vieles nur Überschrift. Jetzt kommt die harte Phase der Prüfung

Bemerkenswert ist dies vor allem, weil Baerbock und Habeck das erhebliche Risiko eingegangen sind, die einstmals zerstrittenen Grünen ausgerechnet auf einem Weg des wachsenden Realismus zusammenzuführen. Noch vor wenigen Jahren hätten sie das wahrscheinlich selbst für unmöglich gehalten. Dass Baerbock dabei noch einmal deutlich besser abschnitt als Habeck, ist keineswegs eine Vorentscheidung in der Frage, wen die Partei als Kanzlerkandidat oder -kandidatin ins Rennen schicken wird. Aber es ist eine Botschaft an Habeck, nicht davonzuschweben. Nach dem Motto: Heb bloß nicht ab, Junge; wir werden auch bei dieser Frage ein Wörtchen mitreden.

So salopp diese Botschaft wirkt - was jetzt kommt, dürfte deutlich schwerer werden. Und es wird nicht nur das Duo an der Spitze fordern. In den letzten zwei Jahren nämlich haben die Grünen in einer für sie beinahe idealen Welt gelebt. Nicht weil das Klima schon gerettet und die Umwelt gesund wären, sondern weil sie seit dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen aus dem Feld der politischen Parteien herausstechen. In vierzig Jahren grüner Geschichte hat es noch keinen Moment gegeben, in dem die Konkurrenz, allen voran SPD und Union, so schwach war und so viel Bindekraft verloren hat.

Die Stärke der Grünen hat also viel mit der Schwäche der anderen zu tun. Das zeigt sich beim Blick auf die Parteiführung, die eine Geschlossenheit und einen Optimismus ausstrahlt, von dem in SPD und Union viele nur träumen können. Noch gravierender aber ist der programmatische Unterschied. Während die anderen Parteien um Kurs und Botschaft ringen, haben die meisten Menschen bei den Grünen das Gefühl zu wissen, wofür diese Partei eintritt. Klimaschutz, Flüchtlingspolitik, Kampf gegen Intoleranz und Rassismus - was andere Parteien spaltet, ist bei den Grünen geregelt. Ausgerechnet bei den Themen, die viele in der Gesellschaft derzeit für die wichtigsten halten, zeigen die Grünen ein klares Profil. Das ist in Zeiten großer Unsicherheit ein politisches Pfund, um das sich die anderen Parteien gerade vergeblich bemühen.

Habeck prophezeit härtere Zeiten für seine Partei

So günstig all dies für die Grünen bislang gewirkt hat - die Partei hat auch davon gelebt, dass vieles vor allem Überschrift blieb, Grundbotschaft, gefühlte Klarheit. Der Schein wirkte schön. Jetzt aber muss vieles konkreter werden. Das wird Fragen und Widerspruch auslösen.

Beispiel: der Beschluss des Parteitages zum Flüchtlingsabkommen mit der Türkei. Darin heißt es, das Abkommen müsse gekündigt werden, weil der türkische Präsident mit dem Einmarsch in Nordsyrien alle Regeln verletze. Zu den Folgen für die Millionen Flüchtlinge in den türkischen Lagern, die bislang mit Milliarden aus dem Abkommen unterstützt werden, heißt es, man werde den Menschen anderweitig helfen. Es gibt gute Gründe, Recep Tayyip Erdoğan und seine Politik für eine Katastrophe zu halten. Und es gibt auch gute Gründe, das Abkommen anzuzweifeln. Aber wer zu den Folgen für die Flüchtlinge in den Lagern lapidar schweigt, der muss sich die Frage gefallen lassen: Wie ernst ist es dieser Führung wirklich mit der Behauptung, dass sie sich auch den unbequemen Fragen stellen werde?

Die Grünen haben in Bielefeld demonstriert, wie raumgreifend sie agieren möchten. Es geht ihnen längst nicht mehr nur um Klima und Flüchtlinge; es geht ums Wohnen und einen höheren Mindestlohn, es geht um eine neue sozial-ökologische Wirtschaftspolitik, um Verteidigung und Europa. Die Grünen-Spitze fühlt sich stark genug, wie eine neue Volkspartei auf alles Antworten zu geben. Doch wer verspricht, Digitalkonzerne zu kontrollieren, Finanzmärkte zu regulieren und die sozialen Folgen des Kohleausstiegs aufzufangen, darf keine Zweifel an seiner Gewissenhaftigkeit mehr aufkommen lassen.

Robert Habeck hat in Bielefeld vorhergesagt, dass die Zeiten für die Grünen härter würden. Und er hat seine Partei aufgerufen, sie möge darüber nicht selbst verhärten. So klug das als Mahnung sein mag - eines hätte er noch ergänzen können: Dass die Partei auch aufpassen muss, sich nicht zu übernehmen. Das könnte zu ihrem größten Problem werden.

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Quelle:
SZ vom 18.11.2019
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