Eine Woche vor der Wahl in Thüringen wird die neue offensive Strategie der Grünen nun auch beim Thema Zuwanderung deutlich. In einem Papier, das der Süddeutschen Zeitung vorliegt, fordern grüne Spitzenpolitiker aus Bund und Ländern eine neue Offensive beim Anwerben von Fachkräften. Die Grünen gehen damit nicht nur deutlich über die Pläne der Ampekoalition hinaus. Sie treten auch Parolen der AfD im Landtagswahlkampf in Sachsen und Thüringen entgegen. „Unsere Fachkräfte machen wir selbst!“, heißt einer der AfD-Slogans in Thüringen. Man sei „Heimat für Thüringer und kein Einwanderungsland“.
Die grünen Bundestagsfraktionschefs Katharina Dröge und Britta Haßelmann fordern in dem „Autor*innenpapier“ zusammen mit weiteren Spitzenkräften der Partei ein viel stärkeres internationales Werben um Fachkräfte und viel größere Integrationsbemühungen. Das Papier haben auch die Fraktionsvizechefs Andreas Audretsch und Konstantin von Notz sowie Landespolitiker wie Sachsens Justizministerin Katja Meier, Thüringens Umwelt- und Energieminister Bernhard Stengele und Nordrhein-Westfalens Familien- und Integrationsministerin Josefine Paul verfasst.
Ein neues Bündnis soll „Willkommen in Deutschland“ heißen
Das Papier listet insgesamt 15 Forderungen auf, mit denen die Grünen ein neues Bündnis „Willkommen in Deutschland“ schaffen wollen. Die Pläne sind reichen weit. So fordern die Grünen, schleunig eine „zentrale Einwanderungsagentur“ in Deutschland aufzubauen, „die noch schneller, digitaler und dienstleistungsorientierter qualifizierten Arbeitsuchenden den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt ermöglicht“. Auch die Sprachbarrieren auf Ämtern sollten dem Papier zufolge fallen: „Wir werben dafür, gemeinsam mit den Ämtern und Behörden einen Fahrplan für die Einführung von Englisch als Zweitsprache auf Ämtern zu erarbeiten.“
Eine zentrale Rolle für einen leichteren Start von Einwanderern im Land sollen demnach „Fachkräfte-Welcome-Center“ einnehmen – als Informationsanlaufstelle nach kanadischem Vorbild. Die Grünen fordern, dass solche Einrichtungen bei Behördengängen, Anerkennungsverfahren und der Suche nach Sprachkursen, Weiterbildung oder Jobs helfen. „Wir wollen uns dafür einsetzen, dass auch in Deutschland solche Fachkräfte-Welcome-Center eingerichtet werden“, schreiben die Grünen. Dafür sollten Förderprogramme aufgelegt und bestehende Strukturen genutzt werden.
Die Grünen wünschen sich auch eine „flächendeckend schnelle Visavergabe“: Das von der grünen Ministerin Annalena Baerbock geleitete Auswärtige Amt habe erfolgreich damit begonnen, das Ausstellen von Visa zu beschleunigen und zu digitalisieren, und so die Bearbeitungsdauer in mancher Auslandsvertretung auf zwei Wochen verkürzt: „Diesen Standard sollten wir weltweit anstreben.“ Auch die Anerkennung von Berufsabschlüssen soll nach dem Willen der Grünen schneller gehen. Gut ausgebildete Bewerber sollten eine Tätigkeit auch dann aufnehmen können, wenn ein Teil der formalen Anforderungen fehlt und sie diesen nach Absprache mit dem Arbeitgeber als „Training on the Job nachholen können“.
Busfahrerinnen, Ingenieure, Pflegekräfte – es geht um viele Berufe
Ehrenamtliche Integration soll dem Plan zufolge stärker als bislang anerkannt und gewürdigt werden. Dies könne durch finanzielle Zuschüsse geschehen. Gleichzeitig sollten Menschen mit Migrationserfahrung ermutigt werden, sich in Vereinen einzubringen. Integrations- und Sprachkurse seien zudem ein elementarer Bestandteil einer gelungenen Integration und müssten finanziell abgesichert werden, heißt es in einem Seitenhieb auf die Finanzplanung des Innenministeriums von Nancy Faeser (SPD), die bei Integrationskursen im Haushalt für das nächste Jahr sparen wird. Zudem wollen die Grünen Arbeitsverbote für Geflüchtete abschaffen: „Es ist absurd, dass Menschen, die in Deutschland Schutz vor politischer Verfolgung oder Bedrohung ihres Lebens suchen, das Verbot erhalten, hier zu arbeiten“, heißt es in dem Papier.
Der Bedarf an Fachkräften aus dem Ausland ist in jedem Fall groß. Wirtschaftsforscher gehen von 400 000 Menschen aus, die jährlich aus dem Ausland nach Deutschland kommen müssen, um die Lücke zu füllen. „Überall fehlen Fachkräfte“, sagte Fraktionschefin Katharina Dröge der SZ: „Busfahrerinnen, Ingenieure, Pflegekräfte werden dringend gesucht. Deshalb werben wir für ein Bündnis zwischen Unternehmen und Politik. Damit sich mehr Menschen für ein Leben und Arbeiten in Deutschland entscheiden, wollen wir die Bedingungen spürbar verbessern.“
Nach Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft gehen in Deutschland durch fehlendes Personal jährlich laut dem Grünen-Papier bis zu 49 Milliarden Euro an Produktionspotenzial verloren. Auch in Ostdeutschland wachsen laut Prognosen die Probleme. Allein in der Lausitz in Brandenburg fehlen bis 2038 rund 60 000 Fachkräfte. Einer Studie der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg (BTU) und des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) zufolge könne der Mangel ein Hindernis für einen gelungenen Strukturwandel der Region werden.
Zwar hatte die Bundesregierung im vergangenen Jahr ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz beschlossen, das inzwischen auch in allen Stufen Kraft ist. Es erleichtert die Anerkennung ausländischer Abschlüsse, senkt die Hürden für den Verdienst in Deutschland und erleichtert es, Familienangehörige nach Deutschland zu holen. Dennoch bleibt die Lücke zwischen Bedarf und tatsächlicher Zuwanderung bislang groß.