Vor wenigen Monaten gelang den Grünen in Europa ihr vielleicht letzter großer Coup. Es war Mitte Juni in Luxemburg, als Österreichs Umweltministerin Leonore Gewessler im Alleingang das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur durchbrachte, gegen den Widerstand ihres Bundeskanzlers Karl Nehammer (ÖVP), gegen ihre schwarz-grüne Regierung in Wien, gegen die Bundesländer. Es zähle allein das Votum der Ministerin zum Zeitpunkt der Abstimmung, befand die belgische EU-Ratspräsidentschaft, und so machte Österreichs Stimme den Unterschied. Die Welle, auf der Europas Grüne in den Jahren zuvor surften, war da schon lange gebrochen.
An diesen politischen Stunt in Luxemburg wird man sich deshalb noch lange erinnern. Eine Woche zuvor hatten die Bürger die Öko-Parteien bei der Europawahl abgestraft; es stand ein Minus von fast 30 Prozent der Sitze, 21 Abgeordnete weniger, nur noch Platz sechs unter den Fraktionen. Fast die Hälfte der Verluste ging auf das Konto der deutschen Grünen, die gemeinsam mit ihren Schwesterparteien nun zurückgeworfen sind auf die Zeit vor 2019, als sie im Brüsseler Europaparlament schon einmal in innen liegenden Büros arbeiten und um ihren Einfluss kämpfen mussten. Jetzt ist auch Gewessler als Ministerin Geschichte, die Grünen in Österreich Wahlverlierer und ihre Regierungsbeteiligung bald vorbei.
Kleine Erfolge in Mittel- und Osteuropa, im Norden und in Italien
Waren die grünen Erfolge seit der Europawahl vor fünf Jahren – in präpandemischen Zeiten ohne Ukraine-Krieg, Energiekrise und Inflation, getragen von der Klimabewegung – doch nur eine Anomalie? Was bedeutet es für die Grünen in Europa, wenn jetzt auch das deutsche Zugpferd schwächelt, wenn die führende grüne Partei daheim so sehr unter Druck steht wie seit dem Ende der zweiten Schröder-Koalition 2005 nicht mehr? Wie viel grüne Politik geht jetzt noch in der EU, wenn es voraussichtlich nicht einmal mehr einen Kommissar geben wird mit grünem Parteibuch?
Die Krise der Bündnisgrünen in der Bundesrepublik, mit dem Revirement an der Spitze vergangene Woche, steht beispielhaft für einen Niedergang, der fast ganz Europa erfasst hat. In Frankreich wurden die Grünen bei der Europawahl so zerrieben, dass sie fast an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert wären. In Belgien und in Finnland fielen sie ebenso zurück. In Griechenland, Ungarn, Estland, der Slowakei, Polen, Tschechien und Malta konnten sie keinen einzigen Sitz erringen. Immerhin: In Mittel- und Osteuropa, in Dänemark und Schweden und sogar in Italien feierten sie Erfolge.
Im Ausland schauen die Partner stets so neidvoll wie anerkennend auf die Deutschen; vielen ist aber auch deren realpolitischer Pragmatismus zuwider. In der Europäischen Grünen Partei (EGP) mit ihren 39 Mitgliedern aus 34 europäischen Ländern geben die Deutschen den Ton an, stellen die meisten Delegierten und haben das höchste Stimmgewicht. Mit ihren inzwischen 130 000 Mitgliedern zählen sie ein Vielfaches dessen, was alle anderen grünen Parteien in der EU zusammen auf die Waage bringen. Sie sind regierungserfahren wie keine andere Partei, stellen nach wie vor Bundes- und Landesminister und einen Ministerpräsidenten und haben Strukturen und Finanzen, von denen andere nicht einmal zu träumen wagen.
Die deutsche Führungsrolle ist mithin implizit, und es greift in diesem Sinne ein altes EU-Prinzip: Wenn Deutschland hustet, hat Europa eine Grippe. „Man schaut derzeit gespannt, aber nicht besorgt nach Berlin“, sagt Sibylle Steffan, Vorstandsmitglied der Europäischen Grünen. Es gebe in der EGP „viel Verständnis für die derzeit sehr komplexe Situation der deutschen Grünen“, vor allem bei anderen grünen Parteien mit Regierungserfahrung, sagt sie. So äußern das viele Grüne, wenn man sie in diesen Tagen auf die Situation anspricht: Regierungsbeteiligungen sind ihren Wahlergebnissen nicht zuträglich.
Parteikrise:Grüne machen sich Mut
Wahlpleiten, Rücktritte, Umfragetief: Die angeschlagene Ökopartei ringt bei einem Zukunftskongress um Lösungen für sich und das Land. Sie will vor allem wieder auf ein Thema setzen.
Lieber den Heldentod als Opposition
Im Europäischen Parlament wählen die Grünen nach dem verheerenden Wahlergebnis aber gerade nicht den Weg der Opposition. Lieber sterben sie eine Art Heldentod und dienen sich als Mehrheitsbeschaffer an, was sich schon darin ausdrückt, dass die Grünen-Fraktion erstmals mehrheitlich eine Kommissionspräsidentin gewählt hat. Ohne die grünen Stimmen wäre Ursula von der Leyen Mitte Juli womöglich am Straßburger Plenum gescheitert.
Was auch daran lag, dass der Grüne Deal, der Kern der Politik von der Leyens in ihrer ersten Amtszeit, auch ein Programm grüner Erfolge war, obwohl die Grünen sie 2019 gerade nicht gewählt hatten und damit nicht Teil der sogenannten Plattform waren, die der Präsidentin ins Amt verholfen hatte. Von der Leyens Klimaschutz-Programm – Klimaneutralität bis 2050, Reform des Emissionshandels, Verbrenner-Aus und viele weitere Gesetze – wirkte dann aber teils so, als hätten es grüne Strategen verfasst.
Jetzt, wo sich der Wind gedreht hat und einige der Klimagesetze nicht mehr ins Ziel gekommen sind, taucht das Wort „Green Deal“ kaum noch auf, es ist aus den Titeln der neuen Kommissarinnen und Kommissare verschwunden und inhaltlich verdrängt worden von industriepolitischen Ideen. An der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP) kommt niemand mehr vorbei, weder im Parlament noch in der Kommission, wo sie 14 von 26 Kommissaren plus die Präsidentin stellen wird. Auf die Grünen, die in EVP-Kreisen wegen ihres teils widersprüchlichen Abstimmungsverhaltens als unzuverlässig beschrieben werden, sind die Christdemokraten weder angewiesen noch gibt es in ihren Reihen große Lust auf eine Zusammenarbeit.
Dass sich die Grünen als Teil von Mehrheiten andienen, wird innerhalb der Partei dennoch als logisch beschrieben. Einerseits stehen auf der rechten Seite des Plenums nun zahlreiche rechtskonservative bis rechtsextreme Abgeordnete bereit, die sich darauf freuen, gemeinsam mit der EVP zu stimmen. Rechte Mehrheiten zu verhindern, wo es geht, ist Teil des grünen Genoms. Andererseits geht es den Grünen darum, zu retten, was es am Grünen Deal noch zu retten gibt. Denn die Zeit der klimapolitischen Gestaltung ist vorerst vorbei. Auch das hat Gewesslers Luxemburger Coup noch einmal gezeigt: Sie stimmte im Rat einem Gesetz zu, das am Ende stark verwässert und weit weg war von dem, was die Grünen ursprünglich wollten.