Politik und Parteien 2019:Wenn alle Gewissheiten verloren gehen

Angela Merkel

Angela Merkel verlässt das wankende Schiff. Sie wird sich aus der deutschen Politik zurück ziehen.

(Foto: picture alliance/dpa)

Grüne und AfD wachsen, Union und SPD schrumpfen, Linke und FDP dümpeln vor sich hin. Aber setzt sich der Trend im nächsten Jahr fort? Die Welt ist unberechenbar geworden für die Parteien.

Von Stefan Braun, Berlin

Offiziell sind alle Parteiführungen guten Mutes. Mit wem man spricht in Union und SPD, bei Grünen, Liberalen, Linken und AfDlern - alle freuen sich auf den Europawahlkampf. Alle wollen optimistisch klingen; alle wollen die Angst vor Abstürzen vertreiben; manche sinnen auf Wiedergutmachung; andere möchten Erfolge konservieren. Also reden alle gut über das, was 2019 ansteht.

Hinter der Fassade aber sieht es anders aus. Europawahlen sind heikle Wahlen. Sie sind bis heute die Abstimmungen, bei denen Unzufriedene ihrem Zorn und ihrer Protestlust am meisten frönen. Und das auch, weil noch immer sehr viele glauben, dass sie bei dieser Wahl ohnehin nicht viel bewirken könnten. Also sehen sie keine günstigere Gelegenheit, den Parteien die Leviten zu lesen.

Wer das in den Parteizentralen nicht verdrängt, ahnt längst, dass auf das politisch schwere und für die Volksparteien hochproblematische Jahr 2018 ein noch heikleres 2019 folgen könnte. Der 26. Mai ist politisch das wichtigste Datum des kommenden Jahres. Noch mehr Protest, mehr Frust, mehr Abgrenzung - vor allem die Sozialdemokraten müssen das fürchten. Sofern das überhaupt noch möglich ist bei einer Volkspartei, die das Jahr bei 14 Prozent Zustimmung beendet.

CDU und CSU geht es kaum anders. Zwar haben sie zuletzt ein ziemliches Spektakel geliefert, mit einem großen Machtwechsel und einem spannenden Dreikampf um die Parteispitze. Ob die neue Sanftheit der CSU und die neue Debattenfreude der CDU beim Wähler gut ankommen, ist aber noch lange nicht entschieden. Im Gegenteil: Die Brüche in den eigenen Reihen, die enttäuschten Erwartungen von außen - niemand kann zum Jahreswechsel verlässlich vorhersagen, ob das miserable Erscheinungsbild der Union vom vergangenen Sommer repariert werden kann.

In welcher Stimmung also gehen die Parteien ins neue Jahr? Was dürfen sie hoffen, was müssen sie fürchten? Ein Ausblick auf das, was 2019 bringen wird und bringen könnte.

CDU: Schafft sie die Trendumkehr?

Auf den ersten Blick kann die Führung der Christdemokraten einigermaßen erleichtert auf das neue Jahr blicken. Der ganz große Knall ist ausgeblieben, den radikalen Machtwechsel an der Parteispitze hat es nicht gegeben. Mit dem knappen Erfolg von Annegret Kramp-Karrenbauer ist der Abschied von Angela Merkel auf friedliche Weise eingeleitet.

Merkel als Kanzlerin und Kramp-Karrenbauer als neue CDU-Chefin können zufrieden ins neue Jahr gehen. Zumal mit dem offenen und weitgehend fairen Wettstreit um den Vorsitz die Umfragen für die CDU wieder besser wurden. Lag sie nach der desaströsen Hessen-Wahl Ende Oktober bundesweit bei gerade noch 26 Prozent, so ist sie mittlerweile wieder auf gut 30 Prozent geklettert.

Doch die anhaltende Debatte über eine Verwendung des unterlegenen Kandidaten Friedrich Merz deutet an, wie sehr viele in der CDU ihre Partei bei bestimmten Fragen ohne Antwort und Lösung erleben. Wie sieht für die CDU eine kluge Wirtschaftspolitik in Zeiten der Digitalisierung aus? Wie stellt sie sich einen modernen Sozialstaat vor? Und was hat sie denen an Sicherheiten zu bieten, die sich vor den neuen Rechtsextremen genauso fürchten wie vor gewaltbereiten Flüchtlingen, die sich gegen einen weltoffenen, liberalen, emanzipatorischen Rechtsstaat wenden?

Auf all das muss Kramp-Karrenbauer nicht nur ein paar pragmatische Ideen, sondern größere Antworten liefern. Und sie muss das alles ergänzen durch eine neue Gesprächskultur, in der unorthodoxe inhaltliche Ideen oder auch Kritik am Bisherigen nicht sofort personalisiert werden. Zuletzt war Kritik zu oft mit einer Attacke gegen die Kanzlerin gleichgesetzt worden. Will Kramp-Karrenbauer ihre Partei aufwecken, muss sie diese Beschneidung der Debatte beenden.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass die CDU 2019 neuen Elan entfaltet. Gelingt es darüber hinaus, Merz zu integrieren, könnte es bei der Europawahl sogar eine positive Überraschung geben.

Dabei helfen könnte, dass die Schwesterpartei CSU neue Treue und Verbindlichkeit im Umgang versprochen hat. Von Horst Seehofer bis Markus Söder gibt es Zusagen, dass sich das Schauspiel des vergangenen Sommers nicht wiederholen wird. Viele Christdemokraten wie der Schleswig-Holsteiner Daniel Günther glauben ohnehin, dass dieser Streit der Vater allen Übels war.

SPD: Kann sie sich noch mal Leben einhauchen?

Die Sozialdemokraten hoffen sehnlichst auf den Wiederaufstieg. Doch die Chancen auf baldige Genesung sind geringer als die der Union. Das hat eine schon fast absurde Ursache. Im zu Ende gehenden Jahr hat die SPD in der Bundesregierung Gutes geleistet - und ist doch selten bis nie dafür belohnt worden. Mittlerweile scheint es, als hänge ihr der Geruch von Gefahr, Angst und Niederlage so tief in den Klamotten, dass sie gar keine Chance mehr hat, aus der Misere herauszufinden.

Sollte es der Führung um Andrea Nahles als Parteichefin und Katarina Barley als EU-Spitzenkandidatin nicht bald gelingen, mit einer positiven Botschaft für Europa durchzudringen, könnte 2019 für die Sozialdemokraten noch schlimmer als 2018 werden.

Die SPD wirkt wie gefangen zwischen zwei Alternativen, die beide einen quasi lebensgefährlichen Preis haben. Bleibt sie in der großen Koalition, wird es keinen aufregenden Neuanfang geben; verlässt sie das Bündnis nach ihrer angekündigten Zwei-Jahres-Bilanz im Herbst 2019, könnte sie viele Anhänger verlieren, weil die eine davonlaufende SPD endgültig nicht mehr für wählbar halten.

Pest oder Cholera - wie keine andere Partei hängt die SPD in diesem Gefängnis fest. Das kann bei den drei im Herbst anstehenden Wahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen zu einem verheerenden Ergebnis führen: Die SPD könnte ihre Rolle als Volkspartei im Osten endgültig einbüßen. Für alle drei Wahlen sind die bisherigen Prognosen miserabel; selbst im alten Stammland Brandenburg droht der SPD ein Absturz hinter die Rechtspopulisten der AfD.

Grüne: Ist der Hype zu halten?

Den Grünen und ihrer Parteiführung geht es nach wie vor prächtig. Umfrageergebnisse zwischen 18 und 20 Prozent fühlen sich gut an. Annalena Baerbock und Robert Habeck an der Parteispitze wissen aber, wie wackelig Umfragen geworden sind - und wie schnell in anderen Ländern alte Parteiensysteme in sich zusammengefallen sind. Was bedeutet es, wenn die eigenen Werte gut sind, die Sozialdemokratie aber obsolet wird?

Hinzu kommt, dass der Klimawandel eine immer härtere und konsequentere Antwort erfordert, die für solche Veränderungen nötigen potenziellen Partner der Grünen aber immer unentschlossener wirken.

Bislang ist der Partei die Balance zwischen radikalen Zielen und Kompromissbereitschaft auf dem Weg dorthin einigermaßen gut gelungen. Sollten sich die Töne aber weiter verschärfen, könnte es für Baerbock und Habeck immer schwerer werden, eine konfliktträchtige Frontstellung mit Union und SPD zu vermeiden.

Größtes Plus der Grünen im Jahr 2018 waren ihre Sympathieträger an der Spitze und ihre Grundbotschaft, das Land mit Optimismus und guter Laune zum Besseren ändern zu wollen. Je schärfer die Auseinandersetzungen, je aggressiver die Fronten, desto schwerer dürfte es auf Dauer fallen, an dieser Grundbotschaft festzuhalten.

AfD: Bleiben die Gegner treue Wahlhelfer?

Der AfD dürfte es, auch wenn es ihr gar nicht passt, ziemlich genauso gehen wie den Grünen. Eigentlich sind die Zahlen für sie gut, teilweise sehr gut. Andererseits kann sie sich nicht sicher sein, dass das so bleibt. Und die Gründe dafür sind vielfältig.

Die größten Verbündeten der AfD in den vergangenen zwei Jahren waren ihre politischen Gegner. Von nichts hat die Partei mehr gelebt als von der Tatsache, dass die Union zerstritten war über die Flüchtlingspolitik und die große Koalition keinen Weg fand, um gut und klug zu regieren.

Immer wieder konnte die AfD mit dem Finger auf andere zeigen und sich bestätigt fühlen. Ob das so bleibt, kann niemand sagen. Hört man genau hin bei den Ankündigungen der CSU und der Koalition im Ganzen, spürt man jedenfalls, dass die Konflikte als gefährlich erlebt und mit aller Macht für beendet erklärt wurden. Sollte auf diese Ankündigung ein entsprechendes Verhalten folgen, könnte es für die AfD komplizierter werden.

Zumal ihre Hauptgegnerin Angela Merkel einen Teil ihrer Macht bereits abgegeben hat. Die immerwährende Attacke, Merkel bewege sich nicht und niemals, wird fortan ins Leere laufen. Schwer zu sagen, ob die Partei adäquaten Ersatz für dieses Feindbild findet.

Und dann ist da noch die Angst, dass Teile der AfD die Partei in die Beobachtung durch den Verfassungsschutz treiben. Die Debatte ist längst entbrannt, und die Angst der Parteiführung davor ist erheblich. Sie weiß, dass vor allem Beamte, Soldaten und Polizisten, die der AfD jedenfalls wählend zuneigten, Abstand nehmen könnten, sollte der Verfassungsschutz eine dauerhafte Beobachtung beschließen.

Interessant ist, wie die rechtsradikalen Teile der Partei ein neues Wahlkampfthema vorbereiten. Das gilt vor allem für den Thüringer Björn Höcke. Er will eine nationale soziale Politik definieren; dabei ist längst klar, in welche an die Nationalsozialisten angelehnte Richtung das Ganze gehen soll. Höcke will ärmere Bevölkerungsschichten ansprechen, er will vermeintliche Privilegien geißeln, er will Wohltaten versprechen und wahrscheinlich auch einen neuen, innerdeutschen Ost-West-Konflikt starten. Spalten, so viel es geht - davon lebt die AfD. Sie hat bislang davon profitiert, dass alle anderen Parteien darauf keine Antwort hatten.

FDP: Wird Lindner eine echte Größe?

Die Liberalen dümpeln seit Monaten eher nebenher. Gewichtige eigene Punkte konnten sie in den vergangenen Monaten kaum machen; von der Krise der beiden Volksparteien profitierten sie so gut wie gar nicht. Dabei lässt sich nicht endgültig klären, ob die Partei immer noch im Nach-Jamaika-Tief festhängt. Parteichef Christian Lindner widerspricht der These vehement; natürlich will er nicht verantwortlich dafür sein, dass die FDP durch sein Nein nicht mehr vorankommt. Eine Antwort auf die Frage, warum es der Partei nicht besser geht, bleibt er gleichwohl schuldig.

Als die Koalition im vergangenen Herbst fast vor dem Aus schien, gab Lindner Interviews, in denen er sich fast penetrant als künftiger Koalitionspartner ins Spiel zu bringen versuchte. Ob das seine FDP wirklich attraktiv gemacht hat, ist unwahrscheinlich.

Umso mehr stellt sich die Frage, ob es Lindner und seiner FDP gelingt, den Europa-Wahlkampf zu einer Bühne für sich zu machen. Wie entschlossen ist ihr pro-europäischer Kurs? Hat sie Vorschläge, wie Europa sich stärker, geeinter, mächtiger präsentieren könnte? Oder verheddert sie sich in einem einerseits, andererseits, was ihr vor allem in Finanzfragen der EU immer mal wieder passiert ist?

Dass auch für die FDP Potenzial existiert, steht außer Frage. Zumal sich andeutet, dass es ein gemeinsamer Kampf mit den Liberalen in ganz Europa werden könnte, den französischen Präsidenten Emmanuel Macron eingeschlossen. Für Elan, für Leidenschaft, für gemeinsame Ziele gibt es also Möglichkeiten. Ob die FDP diese ergreift und mit Inhalten füllt, wird sich erst noch zeigen müssen. Bislang fehlt die große Idee, mit der Lindner seine FDP zum Leuchten bringen könnte.

Linke: Schafft die Partei eine echte Wiedervereinigung?

Die Linke ist in den Turbulenzen der vergangenen Monate fast untergegangen - und dürfte das womöglich nicht mal schlecht finden. Seit Wochen nämlich tobt in der Fraktion (und in der Partei) ein so heftiger Streit über den richtigen Kurs, dass manche intern schon von Krieg sprechen. Das gilt vor allem für Fragen, die sich irgendwie mit Migration, Zuwanderung, Integration verbinden. So sehr hat das zu Streit geführt, dass die eigentliche Frage nicht mehr lautet: Wie links will die Linkspartei 2019 auftreten? Viel heikler und viel existenzieller ist die Frage, ob sie sich wieder vereinigt.

Der Streit zwischen Sahra Wagenknecht mit ihrer Sammlungsbewegung und den Verfechtern einer liberalen Flüchtlings- und Integrationspolitik innerhalb der Linkspartei scheint derart vergiftet zu sein, dass keiner zu sagen wagt, wann und wie er befriedet werden könnte.

Das führt nicht nur zu täglichen Aggressionen in der Fraktion. Es legt sich auch über alle Pläne, sich für die Europawahl ein Programm zu geben. Wer in der Tendenz Flüchtlinge, Migranten und europäische Nachbarn als Bedrohung empfindet, dürfte kaum in der Lage sein, ein staatenübergreifendes Solidaritätsmodell für die EU zu entwerfen.

Eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung? Mehr Solidarität bei Schulden und Steuern? Mehr Zusammenarbeit der linken Parteien in Europa? Mehr Geld für gemeinsame Sicherheitsbehörden, um die liberalen Werte zu schützen? Der Graben in der Partei macht Antworten auf diese Fragen schwierig - und einen leidenschaftlich pro-europäischen Wahlkampf unwahrscheinlich.

Bislang hat die Linke immerhin ein Glück: In den Umfragen schlagen sich die internen Probleme kaum nieder. Zuletzt rutschte die Partei bei den meisten Meinungsforschern ein bisschen ab, davor war sie ein bisschen gestiegen, stets rangiert sie zwischen acht und zehn Prozent. Das ist nicht miserabel, es ist nicht gut. Es liegt irgendwo dazwischen - und wird die Chancen der Linkspartei begrenzen.

Eine Europawahl, neun Kommunalwahlen, drei Landtagswahlen in Ostdeutschland und dazu womöglich noch eine Wahl im Bund - wer glaubt, nach einem verrückten und brüchigen Jahr 2018 könnte die Welt ruhiger werden, wird sich täuschen. Die Welt ist eine andere geworden. Auch in Deutschland.

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