40 Jahre Grüne:Sind die Grünen reif fürs Kanzleramt?

Jahresauftakt-Klausur Grünen-Bundesvorstand

Annalena Baerbock und Robert Habeck, die Bundesvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen, sitzen zu Beginn der Jahresauftakt-Klausur des Grünen-Bundesvorstands zusammen.

(Foto: dpa)

Einst hielten sie Macht für igitt, nun wollen die Grünen die politische Mitte erobern. Die Stärke der Partei ist ihre Vielfalt. Aber etwas Entscheidendes fehlt ihr.

Kommentar von Constanze von Bullion, Berlin

Die Macht war einst igitt für sie, und eine Partei wollten viele um keinen Preis werden. Jetzt würden die Grünen am liebsten gleich Kurs aufs Kanzleramt nehmen und dann den Laden namens Bundesrepublik schmeißen. An diesem Freitag begeht die Partei ihren 40. Geburtstag - und den ihrer ostdeutschen Schwester Bündnis 90, die es seit 30 Jahren gibt. Gefeiert wird da vor allem eine Metamorphose. Sie hat nicht nur die Partei verwandelt, sondern auch das Land.

Aber kann das eigentlich alles einfach so weiter gehen? Kann es nicht. Dabei stimmt es schon: Keine andere etablierte bundesdeutsche Partei kann von sich sagen, eine so überraschende Reise angetreten zu haben.

Sie beginnt nicht erst 1980, mit der Gründung der Grünen in Karlsruhe, sondern früher: in Elternhäusern, die von Krieg geprägt sind und vielfach auch von autoritärem Denken. Eine westdeutsche Welt von Wohlstand und Mief ist das, die nationalsozialistische Verbrechen in der Regel beschweigt, Kinder versohlt, zum sonntäglichen Kirchgang anhält und Frauen domestiziert wie Dienstbotinnen. Zwei atomare Supermächte halten einander in Schach in diesen ersten grünen Jahren, in denen ein gewisser Franz Josef Strauß ungestraft verkünden kann, er sei lieber ein kalter Krieger als ein warmer Bruder.

Und die Grünen? Tragen damals eben nicht nur den Umweltschutz in die Politik und eine nadelnde Tanne in den Bundestag, sondern auch Mut zum Tabubruch in die Köpfe. Die Stärke der Partei ist ihre Vielfalt. Singende Peaceniks marschieren da neben nervensägenden Kommunistinnen, pädophile Stadtindianer Seite an Seite mit Feministinnen. Gastarbeiterfreunde, Atomkraftgegnerinnen, Öko-Sozialisten, RAF-Sympathisanten, Spinner gehören zur grünen Meute, auch ehemalige NS-Verehrer, wenn auch nicht lange.

Wer heute also nach dem Betriebsgeheimnis der frühen Grünen fragt, stößt auf einen politischen Tausendfüßler. Sein Tempo ist der Vielzahl der Beinchen geschuldet, die vorwärts wollen. Die Partei, die sich zunächst als Anwältin der Marginalisierten sieht und von den etablierten Parteien verachtet wird wie heute die AfD, bewegt sich seither vom linken Rand der politischen Landschaft in deren Zentrum. Unterwegs wurde geheult, gestritten, verletzt, bisweilen auch mit der Wasserpistole geschossen. Dem Tausendfüßler sind auch ein paar Beine abhandengekommen. Um manche ist es nicht schade.

Als verzichtbar für die Grünen haben sich beispielsweise Dogmatikerinnen wie Jutta Ditfurth erwiesen, aber auch Selbstgewissler wie Otto Schily. Zu verschmerzen war der Austritt Tausender Mitglieder, nachdem die Realos um Joschka Fischer das Ja zu Kriegseinsätzen in Kosovo und Afghanistan durchsetzten. Nein, die Grünen haben nicht ihre Seele verkauft, seit sie bereit sind, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit zu verteidigen, notfalls mit der Waffe. Und mit der Partei ist das Land gereift, hat viele Wurzeln ins Autoritäre gekappt.

Was Festredner aber gern unterschlagen: Es fehlt da was, etwas Entscheidendes. Seit 1989 die Mauer fiel, ist es den Grünen nicht gelungen, ihren Radius nennenswert nach Osten auszudehnen. Die jüngsten Wahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen zeigen: So westdeutsch wie die Grünen ist nur die FDP. Trotz aller Versuche, sich dem Osten anzunähern, ist man einander auf weite Strecken fremd geblieben. So gesehen ist der Geburtstag von Bündnis 90 eher ein Trauertag.

Die Klimabewegung mag den Grünen Scharen neuer Mitglieder verschaffen und eine nie gekannte Popularität. Sie reicht heute bis in Kirchen und Teile der Industrie. Wer will, kann das als späte Heimkehr in westdeutsche Elternhäuser deuten. Die postsozialistische Gesellschaft aber scheint weitgehend immun zu sein gegen dieses neue grüne Fieber. Die Partei hat sich nachhaltig gewandelt, ob bei der inneren Sicherheit, der Außen- oder Verteidigungspolitik. Grüne regieren in elf Bundesländern mit. Solange ihr Ost-Bein aber derart schwächelt, lässt sich keine Bundestagswahl gewinnen - jedenfalls nicht so, dass die Partei an der Union vorbeikommt und ins Kanzleramt.

Ausgerechnet das Erbe des Sozialismus, dem so viele Parteigründer anhingen, hat sich als besonders hartleibiger Gegner der grünen Idee erwiesen. Dass der Aufstieg nicht einfach so weitergeht, hat aber noch andere Gründe. Das grüne Milieu ist längst nicht so vielfältig, wie das Parteiprogramm verspricht. Die erdrückende Mehrheit ist da akademisch, wirtschaftlich privilegiert und weiß. Arbeiter? Muslime in der ersten Reihe? Fehlanzeige. Und die Marginalisierten, für die die Grünen einst antraten? Denken heute nicht selten national und wählen AfD.

Nur wenn es den Grünen gelingt, ihr Feld auszudehnen und neben dem Umweltthema auch das Anliegen der Vielfalt glaubwürdig zu vertreten, können die Kräfte reichen, um eine Bundesregierung anzuführen. Der Weg bis hierher mag oft hart gewesen sein. Was kommt, wird härter.

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