Süddeutsche Zeitung

Baden-Württemberg:Grün-Rot: Wein oder Essig

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Einen Monat nach einer der erstaunlichsten Wahlen ist der grün-rote Koalitionsvertrag in Stuttgart unterzeichnet worden. Klar ist: In Baden-Württemberg gärt es. Damit Wein und nicht Essig daraus wird, muss der künftige Ministerpräsident Kretschmann klug sein wie Marc Aurel, integer wie Mutter Teresa und antriebsstark wie ein Daimler-Lkw. Ziemlich schwierig also.

Heribert Prantl

Das große schwäbische Experiment beginnt. Es ist eines der spannendsten politischen Experimente in der Geschichte der Bundesrepublik. Zwar sind rot-grüne Koalitionen an sich nichts Besonderes mehr in Deutschland - aber eine Koalition unter Führung eines grünen Ministerpräsidenten hat es noch nie gegeben.

Das Land der Tüftler hat etwas Neues ausgetüftelt: Ausgerechnet das Bundesland, dem man es am wenigsten zugetraut hätte, ausgerechnet das Land, in dem fast sechzig Jahre lang die Konservativen das Sagen hatten, bekommt einen grünen Regierungschef. Einen Monat nach einer der erstaunlichsten Wahlen der letzten Jahrzehnte ist der grün-rote Koalitionsvertrag in Stuttgart unterzeichnet worden. Dem Vertrag sieht man an, dass die Hoffnungen, die sich mit ihm verbinden, größer sind als die Erfolgsaussichten.

Der Beginn dieser grün-roten Landesregierung hat eine Bedeutung, wie sie zuletzt der Beginn der rot-grünen Bundesregierung im Jahr 1998 hatte. Damals ging die 16-jährige Kanzlerschaft von Helmut Kohl zu Ende, damals kamen erstmals die Grünen in eine Bundesregierung. Damals sah Kanzler Gerhard Schröder sich und seine SPD als den Koch und die Grünen mit ihrem Vizekanzler Joschka Fischer als den Kellner der Regierung. Dieses Koch-und-Kellner-Bild gebraucht zwar keiner mehr. Aber wenn man es dennoch tut, ist es heute eher umgekehrt: Die Grünen sind Koch, die Sozialdemokraten Kellner. Die Grünen wissen das, und geben daher dem Kellner das Gefühl, er sei auch ein Koch. So erklärt sich die für die SPD höchst vorteilhafte Verteilung der Ministerien. Der Klügere gibt nach.

Die Zeiten haben sich geändert. Und ausgerechnet das Bundesland mit dem bieder-pfiffigen Ruf markiert diese politische Zeitenwende, die das Ergebnis einer Zeitgeistwende ist: Das Ökologische, das Grüne, steht derzeit für die gesellschaftspolitische Leitkultur der Bundesrepublik. Der Koalitionsvertrag ist so etwas wie die Beurkundung dieses Zeitgeistes. Das Schwabenbündnis ist deshalb keine Provinzangelegenheit, es ist ein furioses bundespolitisches Ereignis, mit dem sich, je nach Couleur, große Erwartungen, skeptische Neugier oder gewaltige Befürchtungen verbinden.

In Baden-Württemberg gärt es: Ob Wein oder Essig daraus wird, ist ungewiss. Georg Christoph Lichtenberg, Aphoristiker und erster deutscher Professor für Experimentalphysik, hat diesen Satz vor 215 Jahren geschrieben - über Frankreich, über die Französische Revolution. Eine Revolution ist zwar das, was in Stuttgart passiert, nicht; aber so etwas Ähnliches: Das bisherige Kernland der CDU erlebt eine demokratische Kulturrevolution, über deren Ablauf, Dauer und Nachhaltigkeit noch niemand etwas sagen kann. Es gärt in Ba-Wü; dabei kann viel passieren: Beim Gärungsvorgang verändert sich die gärende Masse - sie kann aufwallen, sich erhitzen, zerfallen. Wie man das kontrolliert, lehrt die Biotechnologie. Der grüne Ministerpräsident muss zeigen, dass er sie beherrscht. Er nennt sie partizipative Demokratie.

Sie wird sich bei der Lösung des Bahnhofsprojekts Stuttgart 21 bewähren müssen. Der Protest dagegen hat (unter anderem) die Grünen an die Regierung gebracht; es kann sein, dass sich dieser Protest bald neue Objekte und Gegner sucht, und dass dann der neue Protest seine alten Nutznießer frisst. Die verträgliche Bewältigung von Stuttgart 21 ist jedenfalls der Nukleus für den koalitionären Erfolg.

Der Ministerpräsident wird mit den zwei Seelen der Schwaben-Revoluzzer jonglieren müssen: Die eine Seele achtet am Morgen penibel auf die Kehrwoch' im Treppenhaus, die andere protestiert am Abend topfschlagend am Hauptbahnhof. Wenn dieses Jonglieren überhaupt einem gelingen kann, dann Winfried Kretschmann: Er ist die Verkörperung der grüblerischen Pfiffigkeit des Landes. Deswegen wird er Ministerpräsident; weniger deswegen weil, sondern obwohl er Grüner ist. Er wird sein Amt landesväterlich ausüben, er wird hochfliegend radikale Erwartungen enttäuschen müssen. Wenn er geschickt ist, kann er die Industrie, zumal die Autoindustrie, in eine grünere Zukunft locken. Er wird sie locken müssen; zerren kann er sie nicht.

Kretschmann muss klug sein wie Marc Aurel (den er gern zitiert), integer wie Mutter Teresa und antriebsstark wie ein Daimler-Lastwagen. Weil das objektiv schwierig ist, kann sich die Koalition zum Desaster für die Grünen entwickeln. Es kann der grünen Partei in Kürze so ergehen wie der FDP nach der Bundestagswahl von 2009: Dann sind die Tage des Triumphs zugleich der Beginn des Absturzes. Diese Koalition kann aber, wenn sie erfolgreich ist, die Grünen zu einer Volkspartei neuen Typs machen; sie könnten die FDP auf Dauer marginalisieren und der CDU einen Teil ihrer konservativ-liberalen Wählerschaft wegnehmen. Die Grünen wären dann, wie einst die FDP in der alten Bundesrepublik, die Regierungsmacher. Die grüne Partei kann also viel gewinnen; das Risiko, viel zu verlieren, ist aber noch größer.

Der zitierte Georg Christoph Lichtenberg war seinerzeit einer der Ersten in Deutschland, der seine Gartenhäuser mit Blitzableitern versah. Er nannte sie "Furchtableiter". Solche Furchtableiter braucht die grün-rote Koalition auch.

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SZ vom 31.12.2012/beu
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