Süddeutsche Zeitung

Friedrich Wilhelm von Brandenburg:Viel Licht, viel Schatten

Vor 400 Jahren wurde der Große Kurfürst geboren - Jürgen Luhs Biografie des Herrschers attackiert preußische Legenden.

Rezension von Stephan Speicher

Friedrich Wilhelm, vor 400 Jahren, im Februar 1620, geboren, seit 1640 Kurfürst von Brandenburg, gestorben 1688, ist die einzige Gestalt der europäischen Neuzeit, die, ohne König zu sein, als Großer bezeichnet wird: "Der Große Kurfürst" nicht nur in Deutschland, sondern auch bei unseren Nachbarn: Le Grand Électeur, The Great Elector. Aber warum ist das so, was machte ihn "groß"? Bei Peter I. oder Friedrich II. lassen sich Gründe leicht nennen. Aber bei Friedrich Wilhelm?

Schon vor knapp fünfzig Jahren hatte der Marburger Historiker Gerhard Oestreich, als er eine Kurzbiografie Friedrich Wilhelms veröffentlichte, Schwierigkeiten, dessen Größe zu bezeichnen: Sein Bild sei immer schon "mit viel Licht und viel Schatten" gezeichnet worden. Oestreich beendete sein Buch mit dem Gedanken, in der Aufnahme der großen Tendenzen Westeuropas, vor allem der Niederlande, sei Friedrich Wilhelm "der große Nehmende" gewesen, "ein Gebender in diesem Sinne war er nicht".

Noch kritischer vor zwanzig Jahren der Mainzer Historiker Heinz Duchhardt in einem Essay, der die Größe Friedrich Wilhelms "allenfalls" in der Schaffung der Grundlagen sah, auf denen Brandenburg-Preußen zu einer Großmacht aufsteigen sollte. Vor allem aber habe man im 19. Jahrhundert, als man nach einem "Vater" der historischen Sendung Preußens suchte, wohl nur auf Friedrich Wilhelm als "Großen Kurfürsten" zurückgreifen können - "dessen 'Größe' aber doch etwas recht Relatives war".

Ähnlich auch Ernst Opgenoorth in seiner Bonner Habilitationsschrift, der gründlichsten biografischen Studie. Nun gibt es wieder ein Buch zum Thema. "Der Große Kurfürst. Sein Leben neu betrachtet" von Jürgen Luh, in der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin Brandenburg zuständig für Wissenschaft und Forschung.

Merkwürdiger Untertitel! Warum wird die neue Betrachtungsweise, die sich doch von selbst verstehen sollte - wer will schon Bücher, in denen Altbekanntes steht? -, so stark betont? Der reklamehafte Ton macht misstrauisch, und das Misstrauen erweist sich im Laufe der Lektüre leider als immer wieder berechtigt.

Luh liebt es, sein Buch als Aufklärung borussistischer Verblendungen zu inszenieren. Aber wenn man in den Anmerkungen nachblättert, wovon er sich absetzt, dann stößt man regelmäßig auf Historiker aus dem 19. Jahrhundert, Bernhard Erdmannsdörfer, Martin Philippson und Hans Prutz, respektable Leute, deren Arbeit aber in den seither gut 120 Jahren längst der Revision unterzogen wurden.

Das große Ziel, den Schweden Vorpommern abzunehmen, blieb unerreicht

Greifen wir drei Darstellungen der brandenburgisch-preußischen Geschichte heraus, die seit dem frühen 20. Jahrhundert erschienen sind, von bedeutenden Wissenschaftlern verfasst wurden und Einfluss auf das Geschichtsbild der Deutschen ausübten: Otto Hintzes "Die Hohenzollern und ihr Werk" von 1915 (vom Titel darf man sich nicht irritieren lassen), Max Braubachs "Der Aufstieg Brandenburg-Preußens" (1933) und Christophers Clarks "Preußen" (2006/07).

Was Luh als eine neue Betrachtung, als Bruch mit preußenfreundlicher Mythenbildung bezeichnet, ist sehr oft schon bei diesen Autoren zu finden. Nur zwei Beispiele: So schreibt Luh, dass spätere Historiker behauptet hätten, Friedrich Wilhelm habe unter seinen Untertanen einen Aufstieg ",zu nationalem Bewusstsein'" in Gang gesetzt, er selbst ",das Prinzip der deutschen Freiheit'" vertreten. Er nennt für alle Hans Prutz, aber die Leser Otto Hintzes wussten es seit 1915 besser.

Ähnlich steht es mit der berühmt-berüchtigten Flugschrift, die Friedrich Wilhelm 1658 in seinem Kampf gegen Schweden um Vorpommern veröffentlichen ließ: "Gedencke, dass du ein Teutscher bist". Nachfolgende Generationen hätten das zu einem "Manifest 'nationaler politischer Gesinnung' Friedrich Wilhelms" umgedeutet. In der Tat ist das zur politischen Agitation verbreitet worden, vor allem im Nationalsozialismus, aber in seriösen Büchern nicht.

Dass Friedrich Wilhelm streng die eigenen territorialen Interessen seines Staates im Auge hatte und nicht etwa die deutsche Nation, das ist seit Generationen eine Selbstverständlichkeit. Auch die unruhigen, fast nervösen Züge seiner Herrschaft, die Projektemacherei, die allerdings eine Leidenschaft der Epoche war, sind gut bekannt.

Sieht man von der Neigung des Autors ab, Geläufiges zu Neuigkeiten zu erklären, was zeichnet dann sein Buch aus? Der Schwerpunkt ist die Außenpolitik. Auf diesem Feld war Friedrich Wilhelm zeit seines Lebens sehr geschäftig, aber Luh erkennt nur einen Erfolg, die Erlangung der Souveränität für das Herzogtum Preußen, das bis dahin ein Lehen der polnischen Krone war.

Vor allem das große Ziel des Kurfürsten, den Schweden Vorpommern abzunehmen, auf das er einen Anspruch aus Erbgang hatte, blieb unerreicht, und alle diplomatischen Machinationen, zu denen vor allem häufige Bündniswechsel gehörten, konnten nicht entscheidend weiterhelfen.

Rasche Wechsel der Bündnisse waren durchaus zeittypisch, Friedrich Wilhelm aber machte von der Lizenz überreichlichen Gebrauch; er galt als hochgradig unzuverlässig, schon die Zeitgenossen spotteten über sein "Wechselfieber".

Wenig erfährt man über die Innenpolitik, die Konzentration auf die Person verengt den Blick

Und doch ist das Urteil Luhs wohl zu scharf. Der Kurfürst herrschte über Territorien, die unverbunden vom Rhein bis an die litauische Grenze reichten: Kleve-Mark, Minden-Ravensberg, die Mark Brandenburg plus Hinterpommern und zuletzt Ostpreußen. Damit war er vielfach angreifbar, den Besitz zusammenzuhalten muss wohl schon als Leistung vermerkt werden.

Und es irritiert, dass Luh die Außenpolitik fast ausschließlich mit Blick auf Brandenburg darstellt. Dass die konkurrierenden Mächte nicht bloß in Reaktion auf einen ungeschickten Parvenu handelten, sondern ganz eigene Interessen verfolgten, das kommt zu kurz.

Die in ganz Europa beachteten militärischen Erfolge Friedrich Wilhelms gegen die gefürchteten schwedischen Truppen, vor allem den Sieg bei Fehrbellin 1675, der Brandenburg aus seiner Rolle als traditionelles Opfer seiner Nachbarn befreite, taxiert Luh gering, er hält Fehrbellin für ein Gefecht von mäßiger Bedeutung.

Das lässt sich vertreten. Aber so sehr es die Aufgabe der Wissenschaft ist, Mythen zu befragen: Wird die Wissenschaft gründlich betrieben, kommt sie dazu festzustellen, dass Mythen zu jeder geschichtlichen Erzählung gehören und darin eine eigene Kraft entfalten. Mythen zu bilden ist auch eine Fähigkeit. Und zuletzt wird man wohl doch sagen dürfen, dass 1688, beim Tod des Kurfürsten, seine Herrschaft stabiler in der Welt stand, als man 1648 es hätte erwarten können.

Über die Innenpolitik erfährt man weniger, das ist schade. Hier hat die Forschung viele Überzeugungen, die bis in die 1980er-Jahre verbreitet waren, revidiert.

Die allmähliche Staatsbildung mit dem Zusammenwachsen der Territorien, das Verhältnis des Fürsten zu den Ständen und deren weiterwirkender Rolle - da ist vieles zutage gekommen, das einem breiten Publikum, auf das Luhs Buch ja berechnet ist, nicht unbedingt geläufig sein dürfte.

Davon hätte man gern mehr gelesen, auch im Vergleich mit anderen deutschen Territorien. Hier sieht man, dass die Konzentration auf die Person des Kurfürsten den Blick des Autors verengt hat. Und seine Neigung zu starken Urteilen steht der Würdigung der Innenpolitik Friedrich Wilhelms gegenüber, die eine Mischung aus modernen und traditionellen Ansätzen ist.

Dass sein Staat mehr sei als eine Ansammlung der Territorien - membra unius capitis, Glieder eines Hauptes - hat er ausgesprochen, aber nicht mit Konsequenz durchgesetzt. Doch die Inkonsequenzen sind eben interessant, weil sie zeigen, wie schwierig die Entstehung rationaler Staatlichkeit war.

Die Hofhaltung - so aufwendig machten es damals alle

Und da ist noch eine Sache merkwürdig: Luh stößt sich wiederholt an der aufwendigen Hofhaltung Friedrich Wilhelms, die er für völlig unangemessen hält. So denkt wohl jeder spontan.

Aber in den letzten Jahren ist auf diesem Feld viel geforscht worden, und das Ergebnis ist, kurz gesagt: Das Zeremonialwesen ist mehr als eine Girlande, die um die Säulen echter Macht, Wirtschaft und Militär, gewunden wird, es ist der Geltungsanspruch der Politik. Und soweit andere Staaten darauf eingehen, ist es deren Geltung.

So machten es alle.

Und die Brandenburger waren mit ihrer Zeremonialpolitik besonders erfolgreich, wie Barbara Stollberg-Rilinger es beschrieben hat - in einem Aufsatz, den Luh sogar zitiert.

Als Historiker der Preußischen Schlösser und Gärten werden ihm diese Dinge genau vertraut sein. Aber er hat sie nicht gelten lassen wollen.

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SZ vom 14.02.2020
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