Großeinsatz in Istanbul:"Es gibt keinen Gezi-Park mehr"

People run as riot police fires a water cannon on Gezi Park protesters at Taksim Square in Istanbul

Blanke Gewalt: Die Polizei schoss mit Tränengaskartouschen direkt auf die Gezi-Park-Besetzer. Doch auch Familien waren noch im Park, als ein Großaufgebot der türkischen Polizei das Zeltlager komplett niederwalzte. 

(Foto: REUTERS)

Ministerpräsident Erdogan hatte den Demonstranten ein Ultimatum gesetzt. Doch lange bevor es auslief, hat die türkische Polizei gewaltsam den Gezi-Park und den Taksim-Platz gestürmt. Mit blanker Gewalt, Tränengas und Wasserwerfern haben Hundertschaften die Park-Besetzer von dem symbolischen Ort vertrieben. Doch auch Familien waren im Park und sogar eine deutsche Politikerin.

Von Christiane Schlötzer, Istanbul

Dumpf knallen die Tränengasgranaten in den Straßen um den Gezi-Platz in Istanbul. Menschen schreien, rennen, suchen Schutz in Cafés und Hauseingängen. In den frühen Abendstunden hat die türkische Polizei mit mehreren Hundertschaften den Gezi-Park geräumt, der in den vergangenen zwei Wochen zum Symbol für Meinungsfreiheit und Mitbestimmung für die türkische Bevölkerung geworden ist.

Die Räumungswarnung kam nur unmittelbar, bevor die Einheiten in den Park einrückten - und lange bevor das Ultimatum, das Recep Tayyip Erdogan den Demonstranten gesetzt hatte, auslief. "Ich sage es klar: Räumt den Taksim. Wenn er nicht geräumt ist, werden die Sicherheitskräfte dieses Landes wissen, wie er zu evakuieren ist", hatte der Regierungschef am Samstag gesagt - und das Ultimatum für Sonntag angekündigt. Dann soll eine Versammlung der islamisch-konservativen Partei AKP in Istanbul stattfinden.

Als die Polizei am Samstagabend mit Tränengas und Wasserwerfern auf Zelte und Demonstranten schießt und mit großem Räumfahrzeug das Zeltlager plattwalzt, sind noch viele Familien mit Kindern und Touristen im Park, die den Nachmittag mit den Demonstranten verbracht haben. Kurz zuvor hat die Polizei nach gleichem Muster den Taksim-Platz geräumt. Mehrere Menschen werden festgenommen.

Die jungen Gezi-Park-Besetzer, die mit Gasmasken viel besser gegen die schmerzenden Tränengaswolken geschützt sind, versuchen, die Familien aus dem Park zu eskortieren. Leisteten sie in den vergangenen Wochen immer energischen Widerstand gegen die Polizei und warfen Tränengaskartuschen zurück, so wehrt sich an diesem Abend niemand, berichten Augenzeugen.

Doch sie singen und sie rufen Parolen gegen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan: "Das ist erst der Anfang. Der Kampf geht weiter".

"Schießt auf uns, geht nicht da rein"

Und dennoch werden viele verletzt. Sie werden auf Tragen aus dem Park herausgetragen. Einige von ihnen waren ohnmächtig geworden. Ein Augenzeuge beobachtet, wie die Polizei einer jungen Demonstrantin die Gasmaske vom Gesicht reißt. "Es gibt keinen Gezi-Park mehr", sagt ein Augenzeuge erschüttert, der es rechtzeitig aus dem Gelände geschafft hat.

Im Divan-Hotel hinter dem Gezi-Park finden die Rettung, die bei Polizeiaktionen verletzt wurden. An diesem Abend wurden viele gebracht, viele übergeben sich. Seit Beginn der Proteste steht das Hotel den Protestierenden offen. Doch an diesem Abend ist so viel Gas in der Luft, dass es bis in den neunten Stock des Hotels in den Augen brennt. In der Lobby liegen Männer mit Gasmasken auf den Gesichtern auf dem Boden vor Erschöpfung.

Ein Hotel am Taksim - Rettung für die Verletzten

Die Polizei steht vor dem Hotel, doch eine Mauer aus Demonstranten hat sich ihnen in den Weg gestellt. "Schießt auf uns, geht nicht da rein", skandieren sie. Sie ziehen sich ihre T-Shirts hoch und krempeln die Ärmel hoch, damit sie verletzlicher sind. Sie sind lebende Prellböcke gegen blanke Gewalt.

TURKEY-UNREST-POLITICS

Vertrieben aus dem Gezi Park: Mit Tränengas und Wasserwerfern geht die türkische Polizei in Istanbul gegen Demonstranten vor.

(Foto: AFP)

Um den Taksim-Platz hat sich eine Menschenkette gebildet. Die Polizei hat ihn abgeriegelt, doch ringsherum stehen Demonstranten. Im Park ist niemand mehr, außer Polizisten und Stadtverwaltungsleuten, die mit Gasmasken die Reste des Camps wegräumen.

Auch Claudia Roth, Vorsitzende der Grünen, ist im Protestlager als die Räumung beginnt. Sie zeigt sich später entsetzt über das Vorgehen der Polizei. Der Nachrichtenagentur dpa sagte sie: "Das ist wie im Krieg. Die jagen die Leute durch die Straßen und feuern gezielt mit Tränengas-Granaten auf die Menschen."

Die Protestwelle, die bereits fünf Todesopfer gefordert hat, hat sich vor zwei Wochen an dem Streit um ein umstrittenes Bauprojekt in dem zentral gelegenen Park am Taksim-Platz entzündet. Inzwischen wollen die Demonstranten mit ihrem Protest auch ihre Meinungsfreiheit verteidigen. Sie werfen dem Regierungschef vor, dass er autoritär regiert und abweichende Meinungen missachtet. Die vorwiegend jungen und säkular gesinnten Protestteilnehmer verdächtigen ihn, eine schleichende Islamisierung der Gesellschaft zu fördern.

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