Große Koalition:Wir trennen uns, wir trennen uns nicht ...

Unterzeichnung Koalitionsvertrag

Vor einem Jahr unterzeichneten sie den Koalitionsvertrag: Vizekanzler Olaf Scholz, Kanzlerin Angela Merkel und Innenminister Horst Seehofer.

(Foto: picture alliance/dpa)

Die Regierung hat ein Jahr voller Krisen hinter sich. Mindestens dreimal ist die Koalition fast zerbrochen. Ein Rückblick auf Erpressungsversuche, Skandale und Rücktritte.

Von Bernadette Mittermeier

"Ich find' die so attraktiv wie Fußpilz." So fasste SPD-Vize Ralf Stegner seine Haltung zur großen Koalition vor der letzten Bundestagswahl zusammen. Kurz darauf bildet seine Partei mit der Union trotzdem eine gemeinsame Regierung. Seitdem hält sich das Bündnis entgegen aller Widerstände, auch wenn so mancher Beteiligter vielleicht auch heute den Fußpilz-Vergleich ziehen würde. Hinter den Regierungsparteien liegt ein Jahr voller Krisentreffen, Stresstests und Beinahe-Trennungen. Ein Rückblick.

Februar/März 2018: Das SPD-Mitgliedervotum

Stegner ist nicht der Einzige in der SPD, der eine große Koalition für unattraktiv hält. Mürrischer könnte die Partei kaum in das Regierungsbündnis starten können: Nach der großen Enttäuschung bei der Bundestagswahl raffen sich die SPD-Spitzenpolitiker nur mühsam dazu auf, ihre Parteibasis zu einem Bündnis zu überreden.

Sie lassen die Mitglieder Ende Februar abstimmen: Wollen sie den Koalitionsvertrag so akzeptieren? Viele treten extra in die SPD ein, um dagegen zu stimmen. Doch am Ende entscheidet sich die Basis für den Vertrag.

Juni/Juli 2018: Der Asylstreit der Union

Die erste Krise lässt nicht lange auf sich warten. Die Augenringe sitzen tief, im Hintergrund geht schon die Sonne unter, vier Stunden Verhandlungen hat er hinter sich. Aber als Horst Seehofer am 2. Juli vor die Mikrofone tritt, ist in seiner Stimme vor allem Zufriedenheit zu hören: "Es hat sich wieder einmal gezeigt, es lohnt sich, für eine Überzeugung zu kämpfen."

Diese Überzeugung besagt, dass Seehofer Transitzentren einführen und Flüchtlinge direkt an der Grenze abweisen lassen will, wenn diese bereits in anderen EU-Staaten registriert sind. Dafür kämpft er, vor allem gegen Merkel. In den folgenden Monaten legt der Innenminister immer wieder nach: Er nennt den aktuellen Zustand "eine Herrschaft des Unrechts", pocht auf eine Obergrenze, legt einen eigenen "Masterplan Migration" vor und sagt im Gespräch mit der Bild-Zeitung, der Islam gehöre nicht zu Deutschland.

Ein Bruch der Koalition scheint so wahrscheinlich, dass einige Medien und Politiker auf einen Streich hereinfallen: Moritz Hürtgen, Redakteur bei der Satire-Zeitschrift Titanic, benennt seinen Account um in "HR Tagesgeschehen" und twittert, die Fraktion von CDU und CSU sei zerbrochen. Die falsche Eilmeldung "Seehofer kündigt Unionsbündnis mit CDU auf", vermeintlich abgesetzt vom Hessischen Rundfunk, erreicht Millionen Deutsche als Push-Nachricht auf ihrem Handy.

Im Juli sieht es aus, als könnte der Fake wahr werden: Seehofer setzt alles auf eine Karte. Entweder, Merkel gibt seinen Forderungen nach und verhandelt Verträge mit anderen EU-Staaten. Oder er tritt als Bundesinnenminister und Parteichef zurück.

Seehofer bekommt seine Transitzentren - und die SPD das Problem zugeschoben. Denn nachdem sich der Koalitionspartner Union in letzter Minuten zusammengerauft hat, müssen die Sozialdemokraten den Kompromiss akzeptieren, oder selbst den Koalitionsbruch riskieren. Parteichefin Andrea Nahles hält sich mit Kommentaren zum Asylkompromiss zurück und erntet dafür harsche Kritik aus ihrer Partei.

Aus heutiger Sicht scheint die Debatte arg überzogen: Nur elf Migranten wurden aufgrund der neuen Abkommen bisher zurückgeschickt.

Juli/August 2018: Das Geburtstags-Zitat und #Ausgehetzt

Horst Seehofer löst noch einmal Empörung aus. "Ausgerechnet an meinem 69. Geburtstag sind 69 - das war von mir nicht so bestellt - Personen nach Afghanistan zurückgeführt worden", sagt er bei einer Pressekonferenz. In München gehen daraufhin mehr als 25 000 Menschen unter dem Motto "Ausgehetzt" gegen die CSU auf die Straße, mit Dirndl, Regenjacke oder Lederkutte. Seehofer lässt sich davon nicht bremsen: Wenige Monate später nennt er die Migrationsfrage in einem Interview "die Mutter aller Probleme".

Die Umfragewerte der Union fallen im Sommer auf ein Rekordtief: Nur 29 Prozent bekunden bei der Sonntagsfrage im August ihre Unterstützung für die Konservativen. Bei der SPD sieht es noch düsterer aus: Sie kommt auf gerade mal 18 Prozent.

September 2018: Die Maaßen-Affäre

Am 6. September gibt der Präsident des Verfassungsschutzes, von Amtes wegen eigentlich der Zurückhaltung verpflichtet, der Bild-Zeitung ein Interview. Und löst prompt einen Skandal aus.

Wenige Tage zuvor ist in Chemnitz der 35-jährige Deutsch-Kubaner Daniel H. an den Folgen mehrerer Messerstiche gestorben. Der mutmaßliche Täter ist ein Asylsuchender. Noch am gleichen Nachmittag mobilisieren rechte Gruppen Proteste gegen "Ausländerkriminalität". Auf den Demos werden Menschen rassistisch beleidigt und über kurze Strecken verfolgt. Videos darüber gelangen ins Netz. Die Kanzlerin spricht - verlautbart durch ihren Pressesprecher - von "Hetzjagden".

Im Bild-Interview widerspricht ihr Verfassungsschutz-Präsident Maaßen ihr deutlich: "Es liegen dem Verfassungsschutz keine belastbaren Informationen darüber vor, dass solche Hetzjagden stattgefunden haben." Es könnte sich vielmehr "um eine gezielte Falschinformation" handeln. Beweise kann er dafür aber nicht vorlegen. Sofort folgt die Kritik: Vertreter von SPD, Grüne und Linken fordern Maaßens Rücktritt. Er sei falsch verstanden worden, versucht dieser zu beschwichtigen.

Hans-Georg Maaßen bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichts 2017

Lange hält Seehofer zu Verfassungsschutz-Präsident Maaßen (links). Am Ende sagt der Innenminister, er sei "menschlich enttäuscht."

(Foto: picture alliance/dpa)

In der SPD werden Stimmen laut, die den Verbleib in der Koalition vom Umgang mit Maaßen abhängig machen. SPD-Chefin Nahles, CSU-Innenminister Seehofer und Kanzlerin Merkel finden einen Kompromiss, der die Krise aber noch verschärft. Maaßen soll zum Staatssekretär ins Innenministerium befördert werden. Vor allem Nahles wird für diese Entscheidung kritisiert. Natascha Kohnen, stellvertretende SPD-Chefin und als Spitzenkandidatin schon mitten im bayerischen Wahlkampf, stellt sich sogar öffentlich gegen die Parteichefin.

Dann gelangt auch noch eine Rede an die Öffentlichkeit, in der Maaßen die SPD als "linksradikal" bezeichnet. Im November schließlich erklärt Seehofer vor der Presse, Maaßen werde "mit sofortiger Wirkung" in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Die Koalition übersteht die Krise nur knapp.

Oktober 2018: Landtagswahlen in Bayern und Hessen

Bei den Landtagswahlen in Bayern verliert die CSU die absolute Mehrheit. Während die Grünen jubeln, stürzt die SPD ab auf gerade mal 9,7 Prozent. Auch in Hessen müssen die Parteien harte Verluste hinnehmen: Die SPD erreicht nur 19,8 Prozent, die CDU 27 Prozent.

Zwei Parteichefs ziehen die Konsequenzen: Erst gibt Merkel den CDU-Vorsitz auf, dann tritt Seehofer als CSU-Chef zurück.

Die Suche nach einem Nachfolger für Merkel wird für die Regierungskoalition zur Zitterpartie: Mit dem wirtschaftsliberalen, deutlich konservativeren CDU-Kandidaten Friedrich Merz kann sich die SPD keine Koalition vorstellen. Annegret Kramp-Karrenbauer gewinnt mit wenigen Stimmen Vorsprung gegen Merz und den dritten Kandidaten, Jens Spahn.

Februar 2019: Die Rentenreform, Hartz IV und Werkstattgespräche bei der Union

Mit dem Führungswechsel allein ist es nicht getan, das ist den Koalitionspartnern klar. Im Frühling dieses Jahres wagt die SPD den Befreiungsschlag: Sie will sich von Hartz IV verabschieden, die Grundsicherung durch ein "Bürgergeld" ersetzen und eine bedarfsunabhängige Grundrente einführen. Angesprochen darauf, ob sie jetzt den Koalitionsbruch bewusst provoziert, widerspricht Nahles: "Ich wüsste nicht, was die Beschlüsse dieses Wochenende mit der Frage 'Verbleib oder Nichtverbleib in der Koalition' zu tun hätte", sagt sie auf einer Pressekonferenz.

Vertreter der Union kritisieren die Pläne heftig: Sie seien "nicht finanzierbar", eine Politik des "Wünsch-dir-was" oder "die Beerdigung der sozialen Marktwirtschaft". Aber auch die Union besinnt sich auf ihre konservativen Positionen: In einem "Werkstattgespräch" rollt sie die umstrittene Migrationspolitik Merkels wieder auf.

Nach all den ungeplanten Diskussionen wagen die beiden Fraktionen ein Jahr nach Bildung der Koalition die Abgrenzung. Krisenerprobt sind sie nach diesem Jahr immerhin.

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