Süddeutsche Zeitung

EU-Austritt:Großbritannien bekommt eine neue Chance für den Exit vom Brexit

Die Entscheidung des Obersten Gerichts zwingt die Abgeordneten, den EU-Austritt im Parlament und nicht auf der Straße zu verhandeln. Das könnte Neuwahlen nach sich ziehen.

Kommentar von Stefan Kornelius

Jetzt haben also auch die Briten ihre "Volksfeinde" entdeckt, was ziemlich nahe an den Volksverrätern rangiert, die ja in Populisten-Kreisen hierzulande en vogue sind. In Großbritannien richtet das Boulevard sein Todschlagvokabular gegen die Richter des Obersten Gerichts, die anordneten, ein finales Austrittsersuchen aus der EU vom Parlament billigen zu lassen. Das also behagt den Brexit-Radikalinskis nicht. Nigel Farage, der so viele politische Leben wie eine Katze hat, murmelt bereits düster von Unruhen auf den Straßen.

Unruhen wird es nicht geben, aber die Frage bleibt: Gehört der Brexit ins Parlament oder nicht? Darauf gibt es zwei Antworten, eine rechtliche und eine politische. Das verfassungslose Königreich folgt selbstverständlich Regeln, die unterm Strich der Regierung sehr viele Vollmachten einräumen. Gleichzeitig aber kennt die ungeschriebene Verfassung auch einen Obersatz, den der legendäre Richter Thomas Bingham einst formulierte: "Das Fundament der britischen Verfassung ist die Vormacht der Krone im Parlament." Übersetzung: Die gewählten Vertreter des Volkes schlagen im Zweifel die Regierung. Und diese Zweifel sind im Brexit-Fall mehr als angebracht, weil hier nicht nur über eine Bündnis-Bindung entschieden wird, sondern über Rechtssetzung, die seit Jahrzehnten von Brüssel über das britische Parlament in jeden Bereich des britischen Lebens hineinreicht.

Tatsächlich diskutieren die Briten aber nicht Verfassungsrecht, sondern die Mutter aller Machtfragen: Entscheidet die Regierung oder entscheidet das Parlament - und wer wird die Abstimmung überleben? Hier reißt eine Wunde auf, die seit dem Brexit-Votum im Juni nur notdürftig geflickt war. Alles, was die Tories nach der Machtübernahme von Theresa May geliefert haben, war Flickschusterei. Mit all ihren Hohlsätzen - Brexit heißt Brexit - täuscht die Premierministerin über die Tatsache hinweg, dass sie vor einem unlösbaren Problem steht: Welcher Brexit soll es denn sein? Und woher will sie die Mehrheit dafür nehmen? May kann beide Fragen nicht beantworten. Das kann sie die Führung in der Partei kosten und - wenn es nach Labour geht - die Macht im Parlament.

Das Oberste Gericht hat mit seinem Urteil (sollte es bestätigt werden, was wahrscheinlich ist), Abgeordnete und Regierung zu einem Offenbarungseid gezwungen. May wird erklären müssen, wie genau sie den Brexit bewerkstelligen will - hart oder weich, mit Zugang zum Binnenmarkt oder ohne; und die Tories müssen für diesen Kurs im Parlament eine Mehrheit beschaffen. Erstens zwingt dieses Verfahren die Regierung zu konkreten Verhandlungsvorschlägen, und zweitens zwingt es die zutiefst gespaltenen Tories zu einer inneren Klärung: Was eigentlich will die Partei wirklich erreichen in Europa? Der Partisanenkrieg der Hinterbänkler gegen die Parteiführung geht also munter weiter.

Die Chancen stehen nicht schlecht, dass die Regierung diese Klarheit nicht liefern kann. Damit wird es keine Mehrheit im Parlament für das Austrittsgesuch geben. Und damit kommt es zu Neuwahlen, die selbstverständlich von nur einem Thema beherrscht sein werden: Welchen Brexit hättet ihr denn gerne, liebe Wähler?

Das Volk wird sich also ein Parlament wählen müssen, das seinen Brexit-Wunsch auch mit Mehrheit umsetzen kann. Dieses Parlament gibt es heute nicht - die Mehrheit der Abgeordneten ist gegen den Brexit. So wandert dieser historische Volksentscheid doch noch ins Parlament, wo er schon immer hingehörte. Die repräsentative und parlamentarische Demokratie in Großbritannien darf nun demonstrieren, dass es für derart fundamentale Entscheidungen wie den Brexit mehr braucht als populistisches Getöse und ungehemmten Extremismus.

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Quelle:
SZ vom 07.11.2016/stein
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