Großbritannien:Zurück auf Anfang

Großbritannien: Irgendwie schon lustig: Der Brexit-Deal schien zuletzt nur noch an der Frage zu hängen, ob genug Abgeordnete umfallen. Dann erlebte Premierministerin Theresa May (vorne) am Montag die nächste Überraschung.

Irgendwie schon lustig: Der Brexit-Deal schien zuletzt nur noch an der Frage zu hängen, ob genug Abgeordnete umfallen. Dann erlebte Premierministerin Theresa May (vorne) am Montag die nächste Überraschung.

(Foto: Jessica Taylor/AP)

Der Parlamentssprecher in Westminster macht allen Überlegungen von Theresa May, wie sie ihren Deal mit Brüssel doch noch durch das Unterhaus bekommt, einen Strich durch die Rechnung.

Von Cathrin Kahlweit, London

Peter Kyle, Abgeordneter der Labour Party, formulierte am Montag das Unterstatement des Jahres: "Wir kommen aus dieser Sache nicht raus, wenn wir business as usual machen." Business as usual? Macht in Westminster ohnehin niemand mehr. Man könnte eher sagen: Parlament und Regierung befinden sich in höchst außergewöhnlichem Zustand. Oder, wie der Times-Kolumnist Matt Chorley mittlerweile fast täglich schreibt: "This. Is. Not. Normal." Vor einigen Monaten konnten seine Leser noch darüber schmunzeln. Elf Tage vor dem Brexit ist allen das Lachen vergangen. Selbst Chorley. Am Sonntag schrieb der Kolumnist einen Text mit der Überschrift: "Ich sage Ihnen jetzt mal, welche Politiker ich nicht leiden kann: Jeden."

Aber zurück zu Peter Kyle. Er hat, gemeinsam mit einem Kollegen, einen Vorschlag formuliert, über den die Abgeordneten in den nächsten Tagen abstimmen könnten - falls Theresa May das Austrittsabkommen, das sie 2018 mit der EU ausgehandelt hat, ein drittes Mal im Parlament zur Abstimmung stellt. Sollte es, was am Montag noch völlig unklar war, dazu kommen, dann ginge Kyles Logik so: Labour winkt den Vertrag durch. Aber das Ja wäre mit einer Bedingung verknüpft: May stellt ihn hinterher in einem Referendum zur Abstimmung; das Volk darf also darüber abstimmen, ob er in Kraft tritt.

Damit käme es tatsächlich doch zu einer zweiten Volksabstimmung über den Brexit - aber eben mit einer konkreten Vorlage. Labour-Chef Jeremy Corbyn hat angedeutet, er könne sich für diese Idee erwärmen. Andererseits hat sich Corbyn schon für einige Ideen erwärmt in der Brexit-Debatte, die er später doch nicht unterstützt hat.

Politiker und Bürger sehnen einen Deus ex Machina herbei, der dieser Farce ein Ende beschert

Aber wer weiß: Die Abgeordneten Peter Kyle und Phil Wilson könnten ihren Moment des Ruhms bekommen. Alles ist möglich in diesen chaotischen Zeiten, in denen Politiker und Bürger einen Deus ex Machina herbeisehnen, der dieser Farce irgendein Ende beschert. Irgendeines.

Am Ende jener denkwürdigen Woche jedenfalls, in der May ihren Deal ein zweites Mal nicht durch das Unterhaus brachte, das Parlament einen vertragslosen Austritt ablehnte und einer Verschiebung des Brexit-Termins zustimmte, war kurzfristig Hoffnung aufzukommen in Downing Street Number 10. May, hieß es, könnte jetzt, kurz vor dem EU-Gipfel am Donnerstag, vielleicht doch eine letzte Chance bekommen: 149 Abgeordnete hatten beim letzten Mal noch gegen den Vertrag gestimmt. Sie musste also viele Menschen umstimmen.

Dazu müsse sie, wurde gemunkelt, nur die nordirische DUP mit ihren zehn Abgeordneten an Bord bekommen, dann würden die Tory-Brexiteers schon folgen. Und tatsächlich war aus dem Lager ihrer Gegner plötzlich zu hören, da gehe vielleicht noch was. Bevor die Hardliner in der Tory-Partei und die nordirische DUP ertrügen, dass es eine lange Verschiebung des Termins und dann womöglich gar keinen Brexit gibt, könnten sie "mit zugehaltener Nase" doch noch zustimmen.

Einige May-Gegner hatten schon eingelenkt, darunter der ehemalige Brexit-Minister David Davis. Am Wochenende sprach Finanzminister Philip Hammond mit den nordirischen Kollegen; es soll auch um mehr Geld für Nordirland gegangen sein, aber am Montag stieg immer noch kein weißer Rauch auf. Die Zeitungen, die am Wochenende noch vorsichtig optimistisch gewesen waren, schrieben am Montag daher vorsichtig, May werde ihren Vertrag nur noch einmal dem Unterhaus vorlegen, wenn sie sicher sei, dass sie gewinnen könne. Es sehe aber schlecht aus.

Der ganze Brexit-Deal, so schien es am Montag, hing weniger denn je an rationalen Überlegungen, an Überzeugungen oder Argumenten, sondern nur noch daran, ob genug Abgeordnete umfallen würden, die vorher monatelang gerufen hatten: Nur über meine Leiche. Der lauteste unter diesen Rufern war und ist Jacob Rees-Mogg, Chef der europakritischen Fraktion innerhalb der Tory-Fraktion. Er äußerte sich am Montag sibyllinisch: Kein Deal sei besser als ein schlechter Deal. Aber ein schlechter Deal könne, unter gewissen Umständen, besser sein als gar kein Brexit. Sofort lief die Gerüchteküche wieder heiß.

Aber das alles änderte sich dramatisch am Montagnachmittag. Mitten in all den Verhandlungen ließ Parlamentssprecher John Bercow die Bombe platzen: Es werde gar keine dritte Abstimmung geben, wenn May denselben Deal vorlege, den sie schon zweimal vorgelegt habe. Das, so der mächtige "Mr. Speaker", verböten nämlich die Regeln des Hauses. Die Premierministerin könne den Vertrag nur noch einmal im Unterhaus einbringen, wenn sich der Text "substantiell" geändert habe. Das aber steht nicht in Mays Macht. Damit war klar: May würde zum EU-Gipfel fliegen und wohl um eine lange Verschiebung bitten müssen. In den Augen vieler Briten ein Desaster.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: