Süddeutsche Zeitung

Großbritannien:Zu früh gefreut

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Das britische Unterhaus stimmt zwar dem Gesetzesrahmen für das Brexit-Abkommen zu, lehnt aber den knappen Zeitplan von Johnson ab. Nach dieser erneuten Niederlage will der Premier die Gesetzesentwürfe auf Eis legen.

Von Alexander Mühlauer, London

Jacob Rees-Mogg wollte erst gar keine Zweifel aufkommen lassen. "Das Unterhaus muss das Gesetz zum EU-Austritt des Vereinigten Königreichs bis Donnerstag verabschieden", sagte der Vorsitzende des Parlaments am Dienstagmorgen. Nur dann sei gewährleistet, dass der Brexit am 31. Oktober vollzogen werden könne. Damit das auch gelingt, legte Rees-Mogg einen ziemlich straffen Zeitplan vor: drei Stunden Debatte am Dienstag, zwölf Stunden am Mittwoch und schließlich sechs Stunden am Donnerstag. Das sollte reichen, denn danach muss das Gesetz auch noch vom britischen Oberhaus genehmigt werden. Rees-Mogg bat also das House of Lords, schon mal das Wochenende frei zu halten.

Doch am Dienstagabend wurde klar: Aus all dem wird nichts. Die Mehrheit der Abgeordneten im Unterhaus lehnte den Zeitplan der Regierung ab: 322 stimmten dagegen, 308 dafür. Als John Bercow, der Sprecher des Parlaments, das Ergebnis bekannt gab, saß Rees-Mogg recht gefasst in der ersten Reihe der Regierungsbank. Doch das änderte sich rasch, als Oppositionschef Jeremy Corbyn aufstand und Premierminister Boris Johnson "den Schmied seines eigenen Unglücks" nannte. Der Labour-Chef bot Johnson an, nun einen "vernünftigen Zeitplan" zu erarbeiten. Doch davon wollte der Premier nichts wissen. Johnson erhob sich und sagte, dass er sehr enttäuscht sei, dass das Parlament erneut für eine Verschiebung gestimmt habe, statt für seinen Zeitplan, der einen Brexit am 31. Oktober garantiert hätte. Die Regierung werde nun die Gesetzgebung stoppen, erklärte Johnson. Die EU müsse entscheiden, wie sie auf die Bitte des Parlaments nach einer Verlängerung der Austrittsfrist antworte; er werde jedenfalls die Vorbereitungen für einen No-Deal-Brexit beschleunigen. Doch nach Lage der Dinge wird es dazu wohl nicht kommen. Johnson war schließlich per Gesetz gezwungen, bereits vergangene Woche eine Verlängerung der Austrittsfrist bis 31. Januar zu beantragen. EU-Ratspräsident Donald Tusk hatte bereits vor der Abstimmung im Unterhaus deutliche Worte gefunden: "Ein No-Deal-Brexit wird niemals unsere Entscheidung sein." Über eine Verlängerung der Austrittsfrist, wie von London gewünscht, werde in den nächsten Tagen beraten, sagte Tusk. Und fügte hinzu: "Dies hängt sehr davon ab, was das Unterhaus entscheidet - oder nicht entscheidet." Am Abend hatte das britische Parlament dann entschieden; und damit gibt es nicht nur in Brüssel die Gewissheit, dass ein Brexit-Deal in diesem Monat nicht mehr zu schaffen ist. Da half es auch nichts, dass Johnson vor der Abstimmung über den Zeitplan zumindest einen Erfolg verzeichnen konnte: Das Unterhaus hatte mit 329 zu 299 Stimmen den Gesetzesrahmen für den Brexit-Deal im Grundsatz gebilligt. Die Abgeordneten votierten in einer ersten Abstimmung für das zwischen Johnson und der EU vereinbarte Abkommen. Der Inhalt des 110 Seiten starken Brexit-Gesetzespaketes war den Abgeordneten allerdings erst am Montagabend von der Regierung bekannt gegeben worden. Zahlreiche Parlamentarier forderten deshalb mehr Zeit. Es bedürfe weiterer Diskussionen - und zwar über Arbeitnehmerrechte, Umweltstandards und die Frage, warum man nicht gleich lieber in einer Zollunion mit der EU verbunden bleibe. Das forderte jedenfalls Labour, ebenso wie ein zweites Referendum. Corbyn war mit seinem Ansinnen, mehr Zeit für die Debatte zu haben, nicht allein. Kenneth Clarke etwa, den Johnson erst kürzlich mit einigen anderen aus der Tory-Fraktion werfen ließ, erinnerte an ein Gesetz aus dem Jahr 1992. Damals, sagte Clarke, sollte das Unterhaus über den Vertrag von Maastricht abstimmen: "Ich denke, wir hatten mindestens 20 Sitzungstage, um die Euroskeptiker in der Konservativen Partei zu befriedigen, die eine umfassende Debatte forderten." Und jetzt soll über den weitaus bedeutenderen Brexit-Vertrag gerade mal drei Tage diskutiert werden? "Einfach zu wenig Zeit", befand Clarke. Vor allem eine Frage trieb die Abgeordneten parteiübergreifend um: Was passiert, wenn es bis Ende 2020 kein Freihandelsabkommen mit der EU gibt? Die Regierung könnte dann zwar die Übergangsphase, in der sich für Bürger und Unternehmen fast nichts ändert, verlängern - aber was geschieht, wenn sie es nicht tut? Dann könnte es doch noch zu einem chaotischen Brexit kommen. Gut möglich also, dass es eine Mehrheit für einen Antrag gibt, mit dem ein ungeordneter EU-Austritt ausgeschlossen wird. Kurz vor der Abstimmung über den Zeitplan sagte die Regierung kurzerhand noch zu, dass das Unterhaus über die Frage der Verlängerung der Übergangsphase mitbestimmen dürfe. Aber selbst dieses Zugeständnis änderte nichts mehr an der Niederlage von Boris Johnson. Die Reaktion aus Brüssel kam prompt: EU-Ratspräsident Tusk teilte am Dienstagabend nach der Abstimmung relativ unaufgeregt via Twitter mit, dass die EU dem von London beantragten Verlängerungsantrag entsprechen werde. Einen Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs soll es dafür nicht geben. Tusk will die Verschiebung der Austrittsfrist auf den 31. Januar im sogenannten Umlaufverfahren regeln, also schriftlich und ganz ohne Drama. Für Wirbel dürfte jedenfalls weiterhin Boris Johnson sorgen. Denn er wird die Schuld für die Verlängerung bei der EU und dem britischen Unterhaus abladen. Sollte es zu Neuwahlen kommen, dürfte er sich weiter als derjenige inszenieren, der gegen alle Widerstände für den britischen EU-Austritt kämpft.

"Get Brexit done" war bislang sein Motto - daran wird sich wohl so schnell nichts ändern.

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SZ vom 23.10.2019
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