Süddeutsche Zeitung

Großbritannien und die EU:Was der Deal mit Cameron für Europa bedeutet

Um den Inhalt der Reformen ging es nur an zweiter Stelle.

Kommentar von Stefan Kornelius

In den Verhandlungen über die britischen Reformwünsche gab es zwei Ärgernisse, die wie unter einem Brennglas die aktuellen Übel der Europäischen Union beleuchten: erstens der nationale Eigensinn, und zweitens der nationale Eigensinn. Dieser Staatenegoismus kommt in unterschiedlichem Gewand daher, aber er ist der Mühlstein, der die Gemeinschaft hinab zieht. Umgekehrt heißt die Erkenntnis: Als Interessensverbund verliert die EU an Wert.

Da sind zunächst die Osteuropäer, die sich lange der Logik der Cameron'schen Argumente verschlossen haben, weil sie ein paar Vorteile verlieren könnten. Der britische Premier hat ja durchaus einen Punkt, wenn er auf das Missverhältnis bei der Zahlung von Sozialleistungen verweist. Natürlich ist es attraktiv für einen Arbeitssuchenden aus Osteuropa, im Westen des Kontinents nach einem Job zu suchen und die großzügigen Hilfen für Kinder und Familie nach Hause zu überweisen. Da ist es recht und billig, die Hilfen an das Einkommensniveau der Länder anzupassen, in denen die Angehörigen leben.

Europa organisiert vieles gemeinschaftlich, die Sozialsysteme gehören nicht dazu. Die Briten, die besonders attraktiv sind für Arbeitsnomaden im EU-Binnenmarkt, leiden also unter dem Konstruktionsfehler. Dass sie ihn aus Gründen der Fairness beheben mochten, ist freilich auch nur die halbe Wahrheit. Das britische Sozialhilfesystem subventioniert und ermöglicht nämlich auch den Niedriglohnsektor, der auf der Insel besonders stark ausgeprägt ist. Cameron finanziert mit den Beihilfen also die Billigjobs seiner eigenen Landsleute. Für die will er die Zuschüsse weiter zahlen, für die EU-Ausländer nicht. Diese Wahrheit gehört nicht minder in die komplizierte Rechnung.

Das zweite Beispiel nationalen Eigensinns lieferte Cameron selbst. Hier liegt das eigentliche Ärgernis dieser Operation Brexit: Der Premier wünscht sich Reformen, aber die sind nicht wirklich ernst zu nehmen, weil Cameron Veränderungsbedarf vor allem simuliert - zum Zwecke der politischen Selbsterhaltung. Cameron geht es um Cameron, nicht um die EU. Mit dem Deal von Freitagnacht hat die EU nun die Chance, das Parteifeuer bei den britischen Tories auszutreten. Um den Inhalt der Reformen ging es nur an zweiter Stelle. Was für eine Verschwendung von politischer Energie: 27 Staaten für einen. Dagegen waren Alexandre Dumas' Musketiere eine einsame Truppe.

Dabei wäre es der Edlen Schweiß wert gewesen, die EU auf ihren Reformbedarf abzuklopfen. Camerons Wunschzettel war ja in der Tat nicht nur für den Weihnachtsmann geschrieben, sondern listete wichtige Themen auf, die viele Bürger auch auf dem Kontinent umtreiben. Aber die Briten haben die Ernsthaftigkeit einer Reform für alle durch ihre Verbissenheit zugunsten der nationalen Angelegenheit entwertet. Operation Brexit wirkte und wurde verkauft als Übung in Abgrenzung, nicht als Reformwerk für die Union insgesamt.

Hier also liegt das Ärgernis dieser Episode der Gemeinschaftsgeschichte: Weil ein Mann und seine Partei es so wollten, musste ein Jahrespensum harter Arbeit investiert werden in ein Projekt zur Verhinderung des europäischen Zerfalls. Weder der Mann, David Cameron, noch die Mehrheit seiner Partei noch sonst ein klar denkender Mensch kann diesen Zerfall wollen. Und dennoch ist er auch nach dieser Gipfelanstrengung nicht abgewendet. Europa ist gewaltigen Problemen ausgesetzt, die Frage nach dem Verbleib Großbritanniens in der Union müsste eigentlich nicht dazugehören.

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SZ vom 20.02.2016/mikö
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