Großbritannien und die EU:Politisch schwierig, juristisch möglich

Cameron schielt mit seiner Rede zwar auf seinen euroskeptischen Parteiflügel, rein von den EU-Verträgen her wären seine Pläne aber prinzipiell möglich. Doch wenn die EU-Partner den Briten tatsächlich Ausnahmerechte einräumen würden, würde das auch anderswo Begehrlichkeiten wecken.

Von Martin Winter, Brüssel

Die Liste der europäischen Hitzköpfe wird unbestritten von dem Belgier Guy Verhofstadt angeführt. Der britische Premierminister David Cameron hatte seine Rede zur Europäischen Union kaum beendet, da spuckte der Chef der Liberalen im Europäischen Parlament schon Gift und Galle. Dieser Brite spiele "mit dem Feuer", sei in europäischen Dingen "ignorant", und überhaupt ließen sich die europäischen Partner nicht von London "erpressen".

Nun mag man dem ehemaligen belgischen Ministerpräsidenten Verhofstadt seinen Ärger nachsehen. Schließlich trommelt er unermüdlich für viel mehr und nicht für weniger Europa. Aber er hat mit seiner Bewertung der Cameron-Rede genauso wenig recht wie sein Kollege Hannes Swoboda, der den Sozialisten vorsitzt und der sie als "viel Lärm um nichts" abtat. Denn auch wenn Cameron überwiegend auf seinen euroskeptischen Parteiflügel schielt, vertragsrechtlich bewegt er sich überwiegend auf sicherem Grund.

In der Präambel der EU-Verträge versprechen sich die Mitgliedsländer zwar, eine "immer engere Union der Völker Europas" zu schaffen. Aber die in Brüssel bevorzugte Interpretation, dass damit eine immer stärkere politische Integration und damit Verschiebung von Kompetenzen und Souveränität in die europäische Zentrale gemeint ist, entspricht nicht dem Lissabon-Vertrag. In dessen Artikel 48 heißt es nämlich ausdrücklich, dass eine Änderung der Verträge durchaus nicht nur eine Ausdehnung, sondern auch im Gegenteil eine "Verringerung der der Union in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten zum Ziel haben" kann. Die Entwicklung der Europäischen Union ist - vertragsrechtlich - also durchaus keine Einbahnstraße hin zu immer mehr Europa.

Keine Erpressung

Dass der britische Premier diese Möglichkeit zu nutzen gedenkt, ist auch durchaus keine Erpressung. Denn der gleiche Vertragsartikel legt fest, dass die Regierung eines jeden Mitgliedsstaats, das Europäische Parlament oder die EU-Kommission Entwürfe zur "Änderung der Verträge vorlegen" kann. Cameron hat in seiner Rede einige Vorstellungen dazu vorgelegt, die von weniger Bürokratie bis zu mehr Flexibilität bei der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik reicht. Darüber will er nun mit seinen europäischen Partnern reden, so wie die ja im Zusammenhang mit der Euro-Krise auch durchaus über die eine oder andere Änderung an den Verträgen nachdenken.

Solange London sich dabei auf der Ebene der Vertragsänderung bewegt, befindet es sich auf sicherem Grund. Was natürlich nicht heißt, dass es erfolgreich sein wird. Denn es muss dafür eine Hürde überwinden, die ziemlich hoch ist: Der Prozess, die Verträge zu ändern, kann nur dann in Gang gesetzt werden, wenn eine "einfache Mehrheit" der Mitgliedsländer dem im Europäischen Rat zustimmt, also in der Versammlung der Staats- und Regierungschefs. Da müssten dann die Ja-Stimmen die Nein-Stimmen überwiegen. Wenn alle gegenwärtig noch 27 Mitgliedsländer an der Abstimmung teilnehmen, hieße das, dass Großbritannien 13 von ihnen auf seine Seite ziehen müsste.

Zeitliche und politische Risiken

Gegenwärtig dürfte das aber relativ unrealistisch sein. Denn es gibt zwar auch in anderen Ländern durchaus Begehrlichkeiten, die Verträge in dem einen oder anderen Punkt zu korrigieren oder zu ergänzen. So könnte etwa das ambitionierte europapolitische Programm der CDU ohne einen neugestalteten Vertrag kaum verwirklicht werden. Aber wenn der Europäische Rat nach einem positiven Votum für die britischen Wünsche vertragsgemäß einen "Konvent" einberuft, dann kann der schnell zu einer Generalüberholung der Verträge führen mit allen zeitlichen und politischen Risiken. Denn niemand wird die Vertreter der 27 nationalen Parlamente, der Regierungen, des Europäischen Parlaments und der Kommission dann politisch daran hindern können, Zusatzwünsche einzubringen.

Genau das aber fürchtet die Mehrheit der EU-Länder: Wenn die Verträge einmal aufgeschnürt werden, dann sind sie nur noch sehr schwer wieder zusammenzubekommen. Das weiß auch Cameron und hat deshalb eine zweite Linie aufgebaut: Sollte eine Vertragsänderung für alle nicht möglich sein, dann möchte er die von ihm für Großbritannien "gewünschten Änderungen in Verhandlungen mit unseren europäischen Partnern" erreichen. Das ist als "Rosinenpickerei" schon im Vorfeld der Rede des Premierministers auf breite Ablehnung auf dem Festland gestoßen. Und in der Tat würde es die EU in eine schwierige Lage bringen. Das Prinzip der Verträge ist, dass sie für alle in gleicher Weise gelten, wenn sie einmal in Kraft gesetzt sind. Sollte London nachträglich Ausnahmen bekommen, dann könnte das andere zu gleichen Forderungen animieren.

Rein theoretisch allerdings könnten die anderen EU-Länder den Briten auf diesem Weg entgegenkommen. Wenn sie sich politisch darüber einig wären, dann könnten die Mitgliedsländer London zum Beispiel in Form von Protokollen zum Vertrag oder durch kleinere Änderungen im Text Ausnahmen (opt outs) auf bestimmten Politikfeldern einräumen, auf denen die Insel sich von der EU bedrängt oder eingeschnürt fühlt.

Ausnahmen für Großbritannien wären im Übrigen nichts Neues

Die Juristen sind sich zwar noch nicht ganz schlüssig, ob das dann auf dem Weg einer "kleinen Vertragsänderung" möglich wäre. Aber wenn der Europäische Rat zu dem Schluss kommt, dass es "aufgrund des Umfangs der geplanten Änderungen nicht gerechtfertigt ist", einen Konvent einzuberufen, weil es ja nicht um eine Kompetenzübertragung an Brüssel, sondern nur um eine Rückführung geht, dann kann die auch in einem vereinfachten Verfahren unter den Mitgliedsländern gemacht werden. Allerdings müssen auch solche Änderungen von allen Mitgliedsländern anschließend ratifiziert werden, in der Regel von den nationalen Parlamenten.

Ausnahmen für Großbritannien wären im Übrigen nichts Neues. So hat London für die Eurozone und in den gegenwärtigen Verträgen eine Ausnahme-Option für große Teile der innen- und justizpolitischen Zusammenarbeit. Ob Cameron diese Option nutzen will, muss er in diesem Frühjahr entscheiden.

Sollten die europäischen Partner London weder so noch so entgegenkommen und die Briten deswegen für den Austritt stimmen, dann muss die EU nach Artikel 50 der Verträge mit der britischen Regierung die Einzelheiten der Scheidung verhandeln. Dabei kann durchaus festgelegt werden, dass sich die Briten an bestimmten Politiken der EU weiter beteiligen - zum Beispiel am gemeinsamen Markt. Politisch allerdings hätten sie dann in Brüssel keine Mitsprache mehr.

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