Großbritannien und der Brexit:Warum britische Tochter eines deutschen Juden Deutsche werden will

Judith Wolff, Tochter eines aus Deutschland geflohenen Juden

Die Britin Judith Wolff, 45, Tochter eines aus Deutschland geflohenen Juden, hat jetzt die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt.

(Foto: privat)

Ihr Vater floh vor Kriegsbeginn aus Hitlers Reich. Heute sagt Judith Wolff: Dank seiner Liebe zu Deutschland habe sie keine schlechten Gefühle.

Protokoll von Thorsten Denkler

Die Brexit-Entscheidung hat viel Briten verunsichert. Einige Hundert britische Nachfahren deutscher Juden haben jetzt für sich einen Ausweg gefunden, wie sie doch EU-Europäer bleiben können, sollte ihr Land in die Isolation gehen: Sie wollen deutsche Staatsbürger werden. Judith Wolff, 45, Tochter eines aus Deutschland geflohenen Juden, erzählt ihre Geschichte. Und die ihres Vaters.

"Am Tag der Brexit-Entscheidung war ich in Barcelona und habe Freunde besucht. Als ich am Morgen aufwachte, sah ich das Ergebnis auf meinem Smartphone. Es war ein Schock. Ich habe sofort versucht, herauszufinden, ob und wie ich die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen könnte. Ich lag im Bett und ich dachte, ich will nicht weg aus Großbritannien. Ich bin Britin. Ich bin stolze Britin. Aber wenn es zum Brexit kommt, dann will ich nicht auf dieser Insel festsitzen. Ich habe einige Zeit in Frankreich gelebt. Ich bin Europäerin. Und das will ich auch bleiben.

Ich hatte gehört, dass es einen Weg gibt. Als Nachkomme eines aus Deutschland geflohenen Juden hätte ich sogar Anspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft. Das stimmte. Es hat dann etwas gedauert, bis ich alle Papiere zusammen hatte. Das war viel Arbeit. Mein Vater ist 2001 gestorben. Da war ich 30. Ihn konnte ich nicht mehr fragen.

Ich musste eine Reihe von Dokumenten vorlegen, die beweisen, dass mein Vater Jude war und wann er aus Deutschland geflohen ist. Die hatte ich natürlich nicht alle zu Hause. Ich habe Archive anschreiben, Dokumente als echt bestätigen lassen müssen.

Vor ein paar Wochen habe ich dann alles beisammengehabt und habe den Antrag auf deutsche Staatsbürgerschaft zur deutschen Botschaft nach London geschickt. Es ist die richtige Entscheidung. Viele hier sind verunsichert. Was wird aus Großbritannien, wenn es zum Brexit kommt? Wie soll es weitergehen? Die deutsche Staatsbürgerschaft soll da meine Rückversicherung sein.

Die ganze Recherche, das war auch eine Reise in die Vergangenheit meiner Familie. Vieles wusste ich nicht. Ich kenne zum Beispiel meinen Vater nur als Franz Wolff. Aber plötzlich hatte ich Dokumente in der Hand, in denen er Franz Israel Wolff genannt wird. Heute weiß ich, dass die Deutschen den männlichen Juden diesen Zweitnamen gegeben haben, um sie leichter als Juden identifizieren zu können. Frauen bekamen den Zusatznamen Sarah.

Mein Vater ist 1938 mit 17 aus Deutschland geflohen. Die Eltern waren getrennt, zu seiner Mutter hatte er wenig Kontakt. Sie ist schon in den frühen 30er Jahren nach London ausgewandert. Sein Vater, mein Großvater, war Gustav Heinrich Wolff, ein bekannter Bildhauer. Er ist 1934 gestorben. Er war ein Freund des Schriftstellers Gottfried Benn. Die Kunst meines Großvaters wurde 1938 von den Nazis als entartet eingestuft. Ich muss unbedingt noch mehr über ihn erfahren.

Es gab auch einen Bruder, der es nach London geschafft hat. Mein Vater hat viel Zeit mit seinen Tanten und Onkel verbracht. Und mit seinem Cousin Walter. Der hat es bis nach Australien geschafft. Dessen Eltern sind in Auschwitz ermordet worden. Walter und mein Vater hatten bis zuletzt Kontakt.

Mein Vater ist in einer Art jüdischem Internat aufgewachsen, hatte wenig Kontakt zu seinen Eltern. Er hat erkannt, dass es in Deutschland keine Zukunft für ihn gibt. Wie er geflohen ist, kann ich nicht genau sagen. Aber er hatte wohl Hilfe von einer Organisation für jüdische Flüchtlinge in Großbritannien. Er hat dann in einem großen Hotel in London Arbeit gefunden, erst als Kellner. Aber sein English war nicht gut genug. Er musste dann in der Küche arbeiten.

Als England in den Krieg zog, wurde er als "Enemy Alien" auf die Isle of Man gebracht. Die Briten hatten Angst, er könnte ein deutscher Kollaborateur sein. Er musste sich entscheiden. Dort warten, bis der Krieg vorbei ist. Oder dem britischen Militär dienen. Mein Vater hat sich für die Armee entschieden. Dafür, als Deutscher gegen Nazi-Deutschland zu kämpfen. Er hat am D-Day in der Normandie teilgenommen. Zum Glück erst am zweiten Tag. Sonst hätte er es wohl nicht überlebt.

Nach dem Krieg hat er dem britischen Militär in Berlin gedient. Er konnte ja Deutsch und inzwischen auch recht gut Englisch sprechen. Erst 1947 hat er die britische Staatsbürgerschaft angenommen. Er blieb immer hin- und hergerissen zwischen Deutschland und Großbritannien.

Er hatte nie einen Groll gegen Deutschland. Vielleicht liegt das daran, dass er keine direkten Verwandten in den Konzentrationslagern verloren hat. Er hat immer seinen deutschen Akzent behalten. Die Zeit war nicht einfach für ihn nach dem Krieg. Er blieb hier immer der Deutsche. Er hatte keinen echten Platz in der Welt. Aber er hat Deutschland immer geliebt. Er war Deutscher. Und blieb es trotz der Flucht. Dank ihm hatte ich immer ein gutes Bild von Deutschland. Und habe es auch heute."

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