Am ersten Wochenende nach der Wahl hat der neue britische Premierminister das Motto seiner nun vorgestellten Regierung benannt: alles anders, nur nicht auf der Stelle. Keir Starmer versammelte am Samstag erstmals das neue Kabinett am Regierungssitz und betonte anschließend, dass die Labour-Regierung nicht alle Probleme sofort und auf einmal lösen könne.
Das kaputte Gesundheitssystem, die überfüllten Gefängnisse, die wirtschaftliche Lage, drängende Fragen in der Migrationspolitik – das seien die Prioritäten der Regierung. Kaum überraschend wird Starmers Regierung bei den meisten dieser Themen andere Schlüsse ziehen als die Vorgänger der Konservativen.
Das sogenannte Ruanda-Schema etwa, das die Tories nach monatelangem Gezerre durchs Unterhaus gebracht hatten und das vorsieht, Flüchtlinge nach Ruanda abzuschieben, werde mit sofortiger Wirkung gestrichen, sagte Starmer. Es sei klar, dass der Plan viel zu teuer sei und nicht annähernd die Wirkung erziele, die er hätte haben sollen, nämlich die Zahl der über den Ärmelkanal nach Großbritannien Fliehenden zu reduzieren. Yvette Cooper, die neue Innenministerin, berief noch am späten Freitagabend lange Treffen im Ministerium ein.
Am Sonntag brach Starmer zu seiner ersten Reise auf, er will zunächst alle Länder des Königreichs besuchen, Schottland, Wales und Nordirland, ehe er nach England zurückkehrt. Am Dienstag wird Starmer in Washington erwartet, zum Nato-Gipfel. Mit einigen Regierungschefs befreundeter Staaten telefonierte er bereits am Wochenende, darunter auch mit Bundeskanzler Olaf Scholz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Er wolle die Beziehung zwischen Deutschland und dem Vereinigten Königreich auf das „nächste Niveau“ bringen, sagte Starmer zu Scholz einer Mitteilung von Downing Street zufolge. Insbesondere in Fragen der Verteidigung und Sicherheit wollen die beiden Regierungen noch enger zusammenarbeiten.
„Eine der merkwürdigsten Wahlen der jüngeren Geschichte“
Mehr noch als die internationalen Beziehungen Großbritanniens dürfte die Innenpolitik die Agenda der neuen Labour-Regierung bestimmen. Gerade Migration sei dabei ein Thema, das die Partei nicht unterschätzen dürfe, schrieb der frühere Labour-Premierminister Tony Blair in der Sunday Times. Dies sei „eine der merkwürdigsten Wahlen der jüngeren Geschichte“ gewesen, so Blair. Labour gewann zwar 412 Sitze und damit eine „Arbeitsmehrheit“ von 180 Stimmen, nach Abzug des nicht stimmberechtigten Unterhaus-Sprechers sowie der sieben traditionell das Londoner Parlament ablehnenden nordirischen Sinn-Féin-Abgeordneten. Das entspricht 63 Prozent aller Sitze. In absoluten Zahlen aber stimmten lediglich 34 Prozent der Wähler für Labour.
Die Aufteilung der Stimmen war so zersplittert wie wohl noch nie in der britischen Wahlgeschichte. Die Stimmen verteilten sich statt wie bisher üblich nicht auf zwei, höchstens drei Parteien, sondern auf gleich fünf. Dabei bekam die rechte Partei Reform UK mit fünf Sitzen nur einen Sitz mehr als die weit links stehenden Grünen – und genau so viele wie die fünf allesamt als Pro-Palästina-Kandidaten auftretenden Parteilosen.
Wahl in Großbritannien:Endlich mal ein Langweiler
Wer ist Keir Starmer? Eine einfache Antwort fällt sogar Leuten schwer, die den Labour-Chef gut kennen. Macht aber nichts. Denn nach den wilden Jahren mit Johnson, Truss und Sunak scheinen sich viele Briten nach einem Mann zu sehnen, der einfach mal arbeitet.
Blair schrieb, Starmer müsse diese Volatilität der Wählerschaft, die er „ohne Zweifel verstanden“ habe, unbedingt in seine politische Planung einbeziehen. Für Starmer bedeute das auch: Er müsse sowohl den Populismus am rechten und linken Rand bekämpfen, als auch die Bedürfnisse der Wählerschaft in der politischen Mitte befriedigen. Der neue Premierminister hatte in seiner Antrittsrede betont, ein Regierungschef „auch und gerade für diejenigen, die uns nicht gewählt haben“ sein zu wollen. Die genauen Pläne der neuen Regierung sollen in der „King’s Speech“ am 17. Juli vorgestellt werden, die zur Eröffnung jeder neuen Parlamentssaison vom Monarchen vorgetragen wird.
Starmer ernannte am ersten Tag nach der Wahl auch sein Kabinett, das geprägt ist vom Wunsch, eine Balance zwischen Umbruch und Stabilität zu finden. Fast alle Besetzungen waren erwartet worden – sie gleichen dem Labour-Schattenkabinett der vergangenen viereinhalb Jahre.
Den Veränderungswunsch machte der neue Regierungschef schon mit dem ersten öffentlichen Auftritt optisch deutlich. Starmer trat vor britischen Flaggen in einem der Prunksäle in Number 10 Downing Street mit Kronleuchtern und Gemälden an der Wand auf. Den Pressekonferenz-Raum mied er, den Premier Boris Johnson unter großer Kontroverse für rund drei Millionen Euro in Downing Street Number 9 hatte einbauen lassen. Ob er sich schon an die Bezeichnung „Premierminister“ gewohnt habe? Ja, sagte Starmer, und er verstehe zwar die Notwendigkeit, künftig mit seinem neuen Titel angesprochen zu werden. Aber es sei vollkommen in Ordnung, „wenn Sie mich Keir nennen“.