Die tödliche Messerattacke im englischen Southport war erst wenige Stunden her, da lieferte Andrew Tate per Videobotschaft auf X schon erstaunlich genaue Informationen zum Täter: „Ein nicht registrierter Migrant beschloss heute, in einen Taylor-Swift-Tanzkurs zu gehen und sechs kleine Mädchen zu erstechen. Ihr habt richtig gehört: Das war jemand, der in einem Boot ins Vereinigte Königreich gekommen war – niemand wusste, wer er war, niemand weiß, woher er kam.“
Nichts davon stimmte. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keinerlei Details zum Täter. Am nächsten Tag stellte sich heraus, dass er in Cardiff geboren und in Großbritannien aufgewachsen war. Doch die Desinformation war in der Welt. Tate, früher Kickboxer und heute Influencer, wurde vergangenen Monat in Rumänien trotz eines gegen ihn anhängigen Prozesses wegen Menschenhandels, Vergewaltigung und Steuerhinterziehung auf freien Fuß gesetzt. Er hat auf X 9,8 Millionen Follower.
Stimmen wie die von Tate oder Stephen Yaxley-Lennon, bekannt unter dem Pseudonym Tommy Robinson, früher Chef der islamophoben „English Defence League“, haben einen gewaltigen Multiplikationseffekt. Robinson, selbst vielfach vorbestraft, hat sich in der vergangenen Woche ständig zu Wort gemeldet. Der 41-Jährige beschrieb die Krawalle als Ergebnis „berechtigter Sorgen“ und forderte „Massenabschiebungen“, weil sonst „totale Anarchie“ in England ausbrechen werde.
Eines der Hetz-Konten wurde im vergangenen Jahr von X entsperrt
Tate und Robinson gehören zu den prominentesten Online-Stimmen, die die Flammen der fortdauernden Gewalt auf Englands Straßen schüren. „Disinfluencer“ lautet ein relativ neuer Sammelbegriff für solche Figuren, die ein starkes, aber diffuses Gefühl der Unzufriedenheit, Entmündigung und kulturellen Bedrohung von außen für ihre Zwecke nutzen.
Tommy Robinsons X-Konto wurde im vergangenen Jahr entsperrt, sein Online-Einfluss ist seitdem wieder erheblich gewachsen. Seine Rolle als vermeintliche Stimme der entrechteten weißen Arbeiterschicht, die dem vorrückenden Islamismus die Stirn bietet, hat er in eine ergiebige Einnahmequelle umgewandelt. Im Laufe der Jahre sammelte er Millionen in Form von Spenden, oft von Unterstützern, die selbst an der Armutsgrenze leben. Der Mirror meldete, Robinson schicke seine Hetzkommentare derzeit von einem „Fünf-Sterne-Urlaub auf Zypern“.
Aber Tate und Robinson sind nur ein Teil eines breiteren Phänomens. Der Cocktail aus migrationsfeindlichen Impulsen und Lügen über ein islamistisches Motiv des Täters von Southport wurde von vielen angemischt. Der frisch gewählte Reform-UK-Abgeordnete Nigel Farage fragte in einem Facebook-Post, ob die Polizei der Öffentlichkeit vielleicht „die Wahrheit“ vorenthalte. Abgesehen davon, dass die Polizei nie laufende Ermittlungen kommentiert, war es interessant, dass Farage nicht die Möglichkeit nutzte, noch am selben Tag eine entsprechende Anfrage im Unterhaus zu stellen, das zu diesem Zeitpunkt noch nicht in der Sommerpause war. Stattdessen wählte er die Online-Route, in der Gewissheit, dort das von ihm angepeilte Publikum zu finden.
Hinzu kommen obskure Quellen, die möglicherweise auf destabilisierende Intervention feindlicher Staatsakteure zurückgehen. Eine Nachrichtenseite namens „Channel3 Now“ behauptete als Erste, der Verdächtige von Southport sei ein Asylbewerber namens Ali Al Shakati, der „auf der Beobachtungsliste des MI 6“ stehe – eine Falschbehauptung, die sowohl von Farage als auch von islam- und migrantenfeindlichen Netzwerken aufgegriffen wurde.
Die Daily Mail stellte eine Verbindung zwischen „Channel3 Now“ und Russland her – der Youtube-Kanal war vor elf Jahren als russischer Kanal gestartet worden. Die Website von Channel3 News wurde im Sommer 2023 erstellt, eine der vier Facebook-Seiten, die denselben Namen und dasselbe Branding verwenden, wurde zweimal umgewidmet – einmal im Jahr 2023 und ein weiteres Mal im Mai 2024, als sie zu „Channel3 Now“ wurde. Diese Art der Verbreitung von Lügen sei Teil eines „grauen Krieges“, den Russland gegen den Westen führe, befand der ehemalige Leiter des britischen Auslandsgeheimdienstes MI 6, Sir Richard Dearlove.
Die Tech-Konzerne könnten die Algorithmen ändern, aber sie tun es nicht
Ein großes Problem sei, dass X-Konten, die Desinformationen verbreiten, von den Plattformen selbst aufgrund der Präferenzen des jeweiligen Nutzers ausgewählt würden und ihre Botschaft noch verstärkt würde, so der ehemalige konservative Technologie-Minister Damien Collins in einem Interview mit „Times Radio“. Das ließe sich theoretisch ändern. „Sie könnten sich die Algorithmen ansehen, die solche Quellen von Desinformationen für einige Nutzer fördern, und das unterbinden“, so Collins. Zudem erhielten die großen Tech-Konzerne Informationen von westlichen Geheimdiensten, die von feindlichen Akteuren wie Russland oder Iran aus gesteuerte Konten identifizierten, und hätten dann die Möglichkeit, sie zu sperren. Hierzu könnte die Implementierung des sogenannten „Online Safety Act“ in Großbritannien beitragen, der die großen Tech-Unternehmen mehr für ihre Inhalte in die Pflicht nehmen soll.
Normalerweise werden in Großbritannien persönliche Angaben zu minderjährigen Tatverdächtigen nicht gemacht. Ein Gericht in Liverpool hatte wegen der laufenden Desinformationskampagne die Daten in der vergangenen Woche allerdings freigegeben. Um den Online-Lügen entgegenzuwirken, meldeten etablierte Medien wie die BBC daraufhin nicht nur, dass der Täter von Southport, Axel R., ein gebürtiger Brite und kein Muslim sei, sondern auch, dass seine Eltern aus Ruanda stammten. Allein die ethnische Herkunft des Mörders von Southport wurde dann aber wiederum von den Randalierern als Bestätigung für den Verdacht empfunden, dass hier ein „Immigrant“ kleine Mädchen umgebracht habe.