Großbritannien:So brutal ist der Brexit-Streit

Großbritannien: Kämpfen für einen EU-Austritt: Gisela Stuart, Chefin der Leave-Kampagne, und Londons Ex-Bürgermeister Boris Johnson.

Kämpfen für einen EU-Austritt: Gisela Stuart, Chefin der Leave-Kampagne, und Londons Ex-Bürgermeister Boris Johnson.

(Foto: AFP)
  • Boris Johnson, Gesicht der Leave-Kampagne, muss in einer TV-Debatte einiges einstecken.
  • Mit Johnson will keiner abends nach Hause fahren, muss er sich von einer Parteifreundin sagen lassen.
  • Seine deutschstämmige Mitstreiterin Gisela Stuart bleibt blass.

Von Thorsten Denkler

Da ist dieser Zeigefinger, immer wieder dieser Zeigefinger. Weit hinausgestreckt, auf Angriff ausgerichtet. Wie ein Schwert, das nur darauf wartet, sich tief in das Herz von Boris Johnson zu bohren. Der Finger gehört der Labour-Abgeordneten Angela Eagle. Sie vertritt sie ihren Parteivorsitzenden, wenn der nicht im Parlament auftreten kann.

An diesem Donnerstagabend steht sie mit zwei Mitstreiterinnen im Fernsehstudio des britischen Senders ITV für die Remain-Seite, kämpft also für den Verbleib Großbritanniens in der EU.

Ihr aggressiver Zeigefinger ist nur die offensichtlichste Waffe. Diese TV-Runde wird eine Schlammschlacht, drei gegen drei. Drei Remain-Frauen gegen zwei Frauen und einen Mann auf der Leave-Seite. Sie wollen die EU verlassen.

Der einzige Mann in der Runde ist Boris Johnson, der frühere Bürgermeister von London. Auf ihn haben sie es abgesehen auf der Remain-Seite. Johnson ist das Zugpferd der Leave-Kampagne. Der schillernde Widersacher seines Parteifreundes und Premierministers David Cameron.

Der Premier ist selbst nicht hier. Aber dafür Amber Rudd, konservative Ministerin im Kabinett Cameron. Und sie hat ein paar wichtige Dinge über ihren Parteifreund Johnson zu sagen. Johnson möge gerade als das "Herz und die Seele" der Tories rüberkommen. Aber er sei "nicht der Mann, mit dem sie nach einem langen Abend nach Hause fahren wollen". So viel Misstrauen muss sein.

Das Misstrauen ist nicht ganz unberechtigt. In Großbritannien wird viel über die wahren Beweggründe von Johnson spekuliert, sich so massiv für die Leave-Bewegung zu engagieren. Geht es ihm um die Sache? Oder nur um Macht?

Die Spekulationen bieten Amber Rudd jede Menge Angriffsfläche. Sie spricht über das große Thema Immigration. Die Leave-Seite will die Grenzen dichtmachen und totale Kontrolle über die Einwanderung haben. Kein EU-Bürger soll mehr einfach so in Großbritannien leben und arbeiten können. Die Remain-Seite ist für Freizügigkeit.

Ein komplexes Problem, räumt Ministerin Rudd ein. Es gebe dafür keine einfache Lösung. Es geht um Zahlen, wie viele bleiben, wie viele kommen, wie viele wieder gehen. "Aber ich fürchte, die einzige Zahl, die Boris Johnson interessiert, ist die Nummer 10."

Downing Street 10 ist die Adresse des britischen Premierministers. Da würde auch Johnson gerne einziehen. Und zwar möglichst bald. Stimmen die Briten am 23. Juni für den Brexit, er hätte beste Chancen.

So geht es weiter. Die 350 Millionen Pfund kommen auf, die angeblich Woche für Woche an Brüssel gezahlt werden. So steht es groß auf dem roten Bus der Leave-Kampagne. Die Zahl ist eine Erfindung von Boris Johnson. Und ist inzwischen eines der wichtigsten Argumente der Leave-Seite.

Tatsächlich überweist das Vereinigte Königreich netto nur knapp die Hälfte nach Brüssel. Den Briten-Rabatt und die Rückzahlungen an die Briten hat Johnson einfach mal weggelassen.

Amber Rudd würde den Bus gern übermalen. Mit einem Regenbogen über die ganze Seite und einem Topf voll Gold am anderen Ende. Da nämlich, am Ende des Regenbogens, versteckt die irische Märchengestalt Leprechaun ihre Schätze.

Die 350 Millionen auf dem Bus seien ein Skandal, findet die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon. Die Zahl sei ein absoluter "Whopper", eine faustdicke Lüge. Das passe zu Boris Johnson. Der sei ja auch nicht interessiert an den Jobs der Menschen draußen im Land, die mit einem Brexit gefährdet wären. Er sei "nur an David Camerons Job interessiert".

Boris Johnson, der machthungrige Märchenonkel. So stellen seine drei Gegnerinnen ihn hin. Es sei wohl leichter, ihn persönlich anzugreifen, beschwert sich Johnson. Er wolle aber lieber weiter Hoffnung verbreiten statt Angst.

Johnsons Mitstreiterinnen können ihm nicht helfen, sie bleiben blass. Gisela Stuart, Chefin der Leave-Kampagne und deutschstämmige Labour-Abgeordnete, sowie die konservative Ministerin Andrea Leadsom halten der Remain-Seite vor, eine "miserable" Kampagne zu fahren. Sie würden "persönlich", statt auf die Argumente der Leave-Seite einzugehen.

Lügner, Angstmacher, so hauen beide Seiten aufeinander ein. Eine Zuschauerin fragt, wie sie eigentlich überhaupt noch einer Seite vertrauen soll. "Brutal" nennt eine TV-Kommentatorin später die Auseinandersetzung. Mit britischer Zurückhaltung und Höflichkeit jedenfalls hatte dieser Abend nichts mehr zu tun.

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