Großbritannien:Der Wettstreit um die Corbyn-Nachfolge beginnt

Britain's general election 2019

Der Wahlverlierer will noch im Amt bleiben: Labour-Chef Jeremy Corbyn geht durch die Hintertür nach der Besprechung der Niederlage am Tag nach der Abstimmung.

(Foto: Tom Nicholson/Reuters)
  • Nach seiner schweren Wahlniederlage will Labour-Chef Corbyn nicht sofort zurücktreten, sondern einen geregelten Übergangsprozess in die Wege leiten - der sich wohl noch eine Weile hinzieht.
  • Für seine Nachfolge werden derzeit vor allem Frauen gehandelt. Bei der Suche spielt das linke Lager eine wichtige Rolle.
  • Wahrscheinlich wird die neue Vorsitzende sich nicht eindeutig gegen den Brexit positionieren.

Von Cathrin Kahlweit, London

Die erste Kandidatin für die Nachfolge von Labour-Chef Jeremy Corbyn hat sich am Sonntag geoutet - sie denke "sehr ernsthaft darüber nach, sich ins Rennen zu begeben", sagte Lisa Nandy in der BBC, "denn es ist Zeit, Verantwortung zu übernehmen". Nandy, eine warmherzige, jugendlich wirkende Abgeordnete aus Mittelengland, deren Markenzeichen ein kleiner Sprachfehler, ein zartes Lispeln, ist, war als eine der Ersten am Wahlabend in die Offensive gegangen: Ihre Partei, sagte sie, habe nicht zugehört, nicht verstanden. Es sei lange klar gewesen, dass sich Labour endlich aus der Londoner Blase hinausbewegen und die Wähler ernst nehmen müsse, die einst ihre Basis gewesen seien. Sie fordert, den Fokus zu verschieben: politisch zurück in die Mitte - und geografisch in die abgehängten Gebiete des Nordens.

Die Wahl vom Donnerstag hat dem Land einen Erdrutschsieg für die Tories und der Linken ein historisch schlechtes Ergebnis sowie den Verlust Dutzender, sicher geglaubter Sitze beschert. Nandy ist in Manchester geboren und hat ihr Mandat in Wigan, einer kleinen Stadt außerhalb der Industriemetropole, erfolgreich verteidigt. Die 40-Jährige kann also stolz darauf verweisen, sie habe das Vertrauen ihrer Wähler behalten - obwohl auch in ihrem Wahlkreis 2016 die Zahl der Leave-Wähler dominiert hatte, die - wegen des von Boris Johnson versprochenen Brexits - in anderen Wahlkreisen nun mehrheitlich zu den Konservativen übergelaufen sind.

Nandy ist als Corbyn-Kritikerin bekannt. Nach dessen Kür zum Parteichef 2015 hatte es die junge Frau nicht lange im Schattenkabinett des Londoners ausgehalten und sich von der zunehmend dogmatischer werdenden Graswurzelbewegung Momentum distanziert, die Corbyn an der Macht hielt und rechte Abweichler mehr und mehr an den Rand drängte. Als eine Gruppe von Zentristen den Parteichef 2016 zu stürzen versuchte, galt Nandy als mögliche Nachfolgerin, die auch von "weichen Corbynistas" gewählt werden könne. Sie trat nicht an. Corbyn gewann, nach einer Eintrittswelle seiner Anhänger in die Partei, auch sein zweites Rennen um die Labour-Führung - und Nandy zeigte sich erschüttert: Sie habe sich solchem Druck ihrer parteiinternen Gegner ausgesetzt gesehen, dass sie "echte Angst empfunden" habe, sagte sie empört.

"Jeder, der sich für echten Wandel einsetzt, bekommt die Macht der medialen Opposition zu spüren"

Nun also will es die Abgeordnete aus Wigan tatsächlich wissen, denn die dritte Leadership Challenge in vier Jahren steht an. Corbyn hat allerdings am Wochenende angekündigt, er werde nicht sofort zurücktreten, sondern - gemeinsam mit seinem Schattenkabinett - einen geregelten Übergabeprozess in die Wege leiten. Dieser soll erst im neuen Jahr starten und bis zu drei Monate dauern, sodass der große Wahlverlierer Jeremy Corbyn wohl noch bis zum Frühjahr die Partei führen wird.

Der 70-Jährige hatte sich am Wochenende in Zeitungsbeiträgen bei seinen Anhängern für die Niederlage entschuldigt und die Verantwortung übernommen. Allerdings beharrt er überraschend darauf, dass das Wahlprogramm letztlich erfolgreich gewesen sei. "Wir haben die Debatte gewonnen, aber wir haben unsere Argumente leider nicht in eine Mehrheit für den nötigen Wandel" umsetzen können, schrieb der Labour-Chef, und suchte die Schuld bei den Medien, die Labour in den Dreck gezogen und mit ihrer Negativberichterstattung das Wahlergebnis beeinflusst hätten. Im Observer forderte er eine "robustere Strategie", um den im Besitz von Milliardären befindlichen Medien und ihrer gezielten Feindseligkeit etwas entgegenzusetzen. "Jeder, der sich für echten Wandel einsetzt, bekommt die Macht der medialen Opposition zu spüren."

Viele Anhänger teilen die Ansicht, dass die britischen Medien mitschuldig seien an der Labour-Niederlage - so auch Parteivize John McDonnell, der sich am Sonntag in der BBC vor Corbyn stellte. Seine eigene Verantwortung für die Niederlage sehe er vor allem darin, dass "ich das Ausmaß der Angriffe nicht vorausgesehen habe, die auf uns zurollten". McDonnell brachte einige Nachfolgerinnen ins Spiel, denn tatsächlich werden derzeit vor allem die Namen von Frauen genannt, wenn es um eine Neuaufstellung der Partei geht. Fraglich ist nur, ob es jemand schaffen kann, der nicht die Unterstützung von Momentum hat.

Der oder die Nächste an der Parteispitze soll nicht aus London und kein Remain-Fan sein

McDonnell deutete an, dass die aktuelle Führung und die Graswurzelbewegung, welche die 500 000-Mitglieder-Partei auch nach der Wahl dominiert, gern eine Corbyn-Anhängerin an der Spitze sähen. Er erwähnte Schattenwirtschaftsministerin Rebecca Long-Bailey, 40, die er vertraulich "Becky" nannte und als "hervorragend geeignet" bezeichnete. Long-Bailey hatte zwar im Wahlkampf neben ihm und Corbyn an vorderster Front gekämpft - und ist so gesehen für das schlechte Wahlergebnis mitverantwortlich -, hat aber Unterstützung von der Parteilinken. Das gilt ebenso für die bisherige Schattenerziehungsministerin Angela Rayner, von McDonell in der BBC zu "Angie" geadelt.

Es gilt, ob der vor allem im Norden und in Mittelengland eingefahrenen Wahlniederlage von Labour als gesetzt, dass der oder die nächste Parteichefin nicht mehr aus London und kein eindeutiger Remain-Fan sein soll. Jess Philips käme infrage, eine charismatische, bürgernahe, schlagfertige Abgeordnete aus Birmingham, die ihr Mandat am Donnerstag verteidigen konnte; ihr werden Ambitionen nachgesagt. Philips ist auch jenseits von Labour wegen ihres erfrischenden Auftretens populär. Die eigene Parteiführung kritisierte sie am Sonntag im Observer indes massiv: Sie werde beschuldigt, Anhängerin des früheren Premiers und Labour-Chefs Tony Blair gewesen zu sein, schrieb sie, dabei seien solche Labels schädlich. Aber "es gibt Ecken in unserer Partei, die intolerant geworden sind gegenüber Debatten und Veränderung. Es gibt eine Clique, der es egal ist, ob unsere Anziehungskraft nachlässt - solange sie die Kontrolle über die Partei haben."

Auch dies also ein unverhohlener Angriff auf die Momentum-Bewegung, die in den vergangenen Jahren viele Corbyn-Kritiker und moderate Linke aus ihren Ämtern gedrängt und vor der Parlamentswahl innerparteiliche Aus- und Abwahlprozesse gesteuert hatte. So wie die Dinge jetzt stehen, sind die Chancen von Philips daher nicht sonderlich gut. Daran hat auch das Wahldesaster nichts geändert.

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