Süddeutsche Zeitung

Großbritannien nach der Wahl:Das britische Orakel

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Die britischen Wähler sind der herkömmlichen Art der Politik überdrüssig, wissen aber nicht genau, was an deren Stelle treten soll.

Wolfgang Koydl, London

Der eine besiegte Napoleon, der andere bot Hitler die Stirn, und die dritte zwang immerhin die übermächtigen Gewerkschaften in die Knie: Ob der Duke of Wellington, Winston Churchill oder Margaret Thatcher - die Briten konnten sich in ihrer Geschichte immer darauf verlassen, dass der Nation in Stunden des Schicksals eine starke Persönlichkeit erwuchs, die sie mit eisernem Willen und ruhiger Hand aus der Krise führte - im Idealfall begleitet von einer Dosis trockenen Humors.

Weniger heroisch und glanzvoll, aber nicht minder erfolgreich war indes eine andere, typisch britische Antwort auf Krisen: das charmante Durchwursteln. Auf dilettantisch-chaotische Weise hatte sich das Land sein Empire nicht nur zusammengeklaubt, sondern sich anschließend der kolonialen Last auch wieder entledigt - ohne ideologisch aufgeladene Kriege, wie sie Franzosen oder Portugiesen zu führen hatten.

Angst vor der eigenen Courage

Mitunter hatte es den Anschein, als ob John Bull ebenso täppisch durch die Weltgeschichte torkelte wie Miss Sophies Butler durchs Dinner for One - bedrohlich schwankend, aber ohne zu fallen. Es scheint, dass diese Fähigkeit zur Improvisation nun erneut gefragt sein wird.

Denn wenn die Unterhauswahl mit ihrem undurchsichtigen Ausgang überhaupt Klarheit geschaffen hat, dann nur in zwei Punkten: Die britischen Wähler sind der herkömmlichen Art der Politik überdrüssig, aber zugleich wissen sie nicht genau, was an deren Stelle treten soll. Eine Zeitlang sah es so aus, als ob es an den Urnen eine Revolution geben würde. Doch am Ende schienen die Briten Angst vor der eigenen Courage bekommen zu haben.

Wenn die Wähler mit ihren Stimmen Sicherheit gewinnen wollten, so säten sie stattdessen Konfusion. Es sind verwirrende Signale: Labour unter dem weitgehend charismafreien Premierminister Gordon Brown verlor zwar diese Wahl, doch nicht wirklich überzeugend. Die Konservativen unter ihrem als Erneuerer angetretenen Führer David Cameron gewannen nach 13 Oppositionsjahren zwar deutlich hinzu, aber ebenfalls nicht genug. Die Liberaldemokraten schließlich wissen überhaupt nicht, ob sie gewonnen oder verloren haben.

Verglichen mit ihrem seinerzeit als besonders gut bewerteten Ergebnis vor fünf Jahren konnten sie diesmal ihren Stimmenanteil sogar noch steigern; gemessen an ihrer in den letzten Wochen in die Stratosphäre geschossenen Popularität indes brachen sie niederschmetternd ein und verloren sogar Mandate im Unterhaus.

"Der Wähler hat gesprochen, aber leider wissen wir nicht, was er gesagt hat", fasste der frühere Liberalen-Chef Paddy Ashdown das Resultat zusammen. Viel Zeit hat die politische Klasse nicht, um das Orakel der Bürger zu entschlüsseln. Zu groß sind die Aufgaben, die angepackt werden müssen, zu tief ist die Krise, in der Großbritannien steckt. Vor allem die nervösen Finanzmärkte werden nicht warten, bis in Westminster eine Regierung geruht zu arbeiten.

Weltmacht oder Leichtgewicht

Die Nation starrt in ein abgrundtiefes Schuldenloch, das eine neue Regierung so schnell wie möglich auffüllen muss. Das ist eine vergleichsweise leichte Aufgabe, gemessen an dem eigentlichen Problem, vor dem die neue Regierung steht: Großbritannien muss seine Identität neu bestimmen - als Gesellschaft und als Partner in der Völkergemeinschaft.

"Die stillen Grundannahmen unserer Nation und ihrer Politik stehen in Zweifel", schrieb die Times am Tag vor der Wahl so getragen und düster, wie dies nur die Leitartikler dieser Zeitung beherrschen. "Es ist nicht gesichert, dass Britannien eine Großmacht oder eine einträchtige Gesellschaft bleiben kann, die wohlhabend genug ist, um ihren Bürgern Freiheit und Gerechtigkeit zu garantieren."

Die Einsicht trifft zu, doch sie kommt ziemlich spät. Denn schon lange ist es klar, dass Großbritannien im Reigen der Nationen von der Schwergewichtsklasse auf Welter-, wenn nicht gleich auf Leichtgewicht geschrumpft ist. Doch mit einer Mischung aus Chuzpe, Tollkühnheit und Selbstbetrug boxte Britannien immer wieder bei den Großen mit, in der Finanzwelt wie in militärischen Konflikten. Lange ging dieser Betrug gut. Warum auch nicht, schließlich gab es ja auch genügend Menschen, denen man erfolgreich weisgemacht hatte, dass der super-coole Agent James Bond eine reale Person war.

Der neue Problemschüler

Jetzt funktioniert der Bluff nicht mehr - spätestens seitdem die Finanzblase geplatzt ist, die Politiker und Banker in London fleißig mit aufgeblasen hatten. Der Oberlehrer, der den saumseligen Kontinentaleuropäern immer wieder mit erhobenem Zeigefinger die Vorzüge ungezügelten kapitalistischen Wirtschaftens gepredigt hatte, wandelte sich über Nacht zum Problemschüler.

Die Kriege im Irak und in Afghanistan wiederum lehrten die Grenzen militärischen Engagements. Zum einen mangelt es an Geld: London zeigte sich außerstande, seine Truppen mit festem Schuhwerk, Schutzwesten, Truppentransportern und Hubschraubern auszurüsten. Es fehlt aber auch am Willen: Der Irak-Einsatz war von einer Mehrheit der Briten rundweg abgelehnt worden; nun stellen sie auch den Sinn des Engagements in Afghanistan in Frage. Auch der militärische Beitrag, den britische Truppen zu leisten vermögen, lässt zu wünschen übrig. Aber diese vertraulich auch von den Amerikanern geäußerte Kritik wird nicht ausgesprochen.

Überhaupt ist das Verhältnis der USA zu seinen transatlantischen Cousins unter Präsident Barack Obama deutlich abgekühlt. Die Zeiten, in denen ein Briten-Premier unter Hinweis auf die special relationship automatisch Zutritt zum Oval Office erhielt, sind vorbei. Amerikas Partner ist jetzt Europa, und Londons Wert wird in Washington daran gemessen, wie viel Einfluss es in den europäischen Institutionen hat. Doch darum ist es mäßig bestellt: Bis heute hat sich das Königreich nicht dazu durchringen können, seine Rolle in Europa zu definieren. Weder richtig drinnen noch draußen steht London gleichsam in einer offenen, zugigen Tür. Kein angenehmer Ort, und Einfluss kann man vor hier aus schon gar nicht ausüben.

Die außenpolitischen Sorgen verblassen vor den innenpolitischen Herausforderungen. Im Gegensatz etwa zu Frankreich oder Deutschland ist das politische Establishment in England einer Debatte über die Einwanderungspolitik und über die Zersplitterung der Gesellschaft ausgewichen. Außerdem bedarf die politische Infrastruktur dringend der Generalüberholung. Das fängt beim Wahlsystem an, das nicht einmal mehr stabile Majoritäten garantieren kann.

Die alte Seefahrernation Britannien gleicht einem Schiff, das sich von der Ankerkette losgerissen hat und ziellos umhertreibt. Es kann hinausdriften auf das offene Meer, oder es kann an der Kaimauer zerschellen, wenn kein Kapitän das Steuer ergreift. Wer dieses Schiff in den nächsten Jahren steuern wird, ist unklar. Sicher ist nur, dass die Brücke nicht lange verwaist bleiben darf.

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Quelle:
SZ vom 8.5.2010
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