Großbritannien:Mays bislang größte politische Kehrtwende

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Fertigmachen für eine Rede, die keiner erwartet: Theresa May am Dienstag kurz vor ihrer Ankündigung, das Unterhaus um Neuwahlen zu bitten. (Foto: Dan Kitwood/Getty Images)
  • Großbritanniens Premierministerin May hat bislang stets ein Image als einzig berechenbare Größe kultiviert.
  • Mit ihrem Einsatz für Neuwahlen vollführt sie die bisher größte Kehrtwende ihrer Amtszeit.
  • Unter normalen Umständen wäre die Opposition begeistert. Doch besonders die Labour-Partei dürfte aus den Neuwahlen geschwächt hervorgehen.

Von Alexander Menden, London

Welche Qualitäten man Theresa May als Politikerin auch nachsagen mag, als Meisterin der Überrumpelungstaktik galt sie nie. Die britische Premierministerin hat im Gegenteil mit ihrer "Brexit heißt Brexit"-Rhetorik ein Image als einzig berechenbare Größe im politischen Sturmgebraus Britanniens kultiviert. Selbst ihr Haar umrahmt so verlässlich das Gesicht, dass die Fotografen, die Mays Londoner Rede am Dienstagvormittag dokumentierten, immer dann eifrig knipsten, wenn der Wind die Frisur zerzauste.

Dabei hätte es dieser optischen Auflockerung des Gewohnten gar nicht bedurft, denn das, was May verkündete, war die mit Abstand größte politische Kehrtwende ihrer bisherigen Amtszeit: Sie werde am Mittwoch das britische Unterhaus bitten, seine Zustimmung zu Neuwahlen am 8. Juni zu geben, sagte May. Damit widersprach sie allem, was sie bisher beteuert hatte. Bei ihrer Bewerbung um das Amt der Premierministerin im Juni hatte sie Unterhaus-Neuwahlen kategorisch ausgeschlossen, und noch Ende März waren die Signale der Regierung eindeutig gewesen: Keine snap election vor 2020. Die Ankündigung von Neuwahlen traf Politiker und Beobachter deshalb vollkommen unvorbereitet.

Großbritannien
:May kündigt für 8. Juni Neuwahl in Großbritannien an

Die britische Premierministerin begründet diesen Schritt mit den politischen Streitigkeiten über den Brexit. Ihre Entscheidung kommt äußerst überraschend.

Einen reibungslosen Brexit garantiere nur eine konservative Regierung

Auffällig war, dass an Mays Pult das Amtswappen fehlte. Sie sprach also als Parteivorsitzende, nicht als Premierministerin, und die Bekundung ihres Willens zu Neuwahlen war zugleich die erste Wahlkampfrede. Sie habe sich "widerwillig" zu dieser Entscheidung durchgerungen, so May, weil nur so zu gewährleisten sei, dass die "Vision" der Regierung für den EU-Ausstieg umgesetzt werde.

Die Oppositionsparteien und die "ungewählten Mitglieder" des Oberhauses wollten einen reibungslosen Ablauf der Brexit-Verhandlungen sabotieren: "Jede Stimme für die Konservativen bedeutet, dass wir uns an unseren Plan für ein stärkeres Britannien halten können", sagte May, "und die richtigen langfristigen Entscheidungen für eine sicherere Zukunft treffen können." Sprich: Einen reibungslosen Brexit, wie ihn nach offizieller Sprachregelung der Regierung "das Volk" will, könne nur eine konservative Regierung mit einer erweiterten Mehrheit garantieren - sowie eine Premierministerin mit einem persönlichen Mandat.

Erfreut zeigten sich jene Parteien, die sich immer klar gegen den Brexit positioniert hatten: Tim Farron, Chef der Liberaldemokraten, die derzeit nur neun Abgeordnete stellen, erklärte Neuwahlen zur "Chance, dem Land eine neue Richtung zu geben". Die schottische Erste Ministerin Nicola Sturgeon nannte die Entscheidung eine "Fehlkalkulation", begrüßte aber die Gelegenheit, gegen die Tories in den Wahlkampf zu ziehen. Ihr Ziel eines zweiten schottischen Unabhängigkeitsreferendums sieht sie nicht gefährdet.

Corbyns Großspurigkeit: Zweckoptimismus oder Verblendung?

Für vorzeitige Neuwahlen ist nach der Einführung von festen Legislaturperioden im Jahr 2011 eine parlamentarische Zweidrittelmehrheit nötig. Dass Labour-Chef Jeremy Corbyn Mays Ankündigung begrüßte und sagte, seine Fraktion werde für Neuwahlen stimmen, wäre unter normalen Umständen Formsache gewesen. Welche Oppositionspartei ließe sich schon die Chance entgehen, die Regierung zu übernehmen? Aber die Umstände sind seit dem EU-Referendum alles andere als normal, und eins der Merkmale des Ausnahmezustandes ist die aus Selbstzerfleischung resultierende Schwäche der Labour-Partei.

Corbyn ist die Inkarnation dieser Schwäche. Unter seiner Führung ist Labour in den Umfragen auf 23 Prozent abgerutscht, die Tories liegen bei 44 Prozent. Laut dem Meinungsforschungsinstitut YouGov halten nur 14 Prozent aller Wähler Corbyn für fähig, Premier zu sein. Diesen Tiefpunkt nutzt May mit ihrer Terminierung gnadenlos aus. Ganz gleich, ob es Zweckoptimismus oder einfach Verblendung war, die den Parteichef noch am Dienstagmorgen im Fernsehen behaupten ließ, die meisten Wähler, Mitglieder und Abgeordneten von Labour stünden hinter seinem Programm: Es deutet alles darauf hin, dass seiner Partei im Juni die schlimmste Wahlniederlage ihrer Geschichte droht.

© SZ vom 19.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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