Süddeutsche Zeitung

Großbritannien:Lords in die Provinz

Boris Johnson erwägt, das Oberhaus nach York zu verlegen.

Von Cathrin Kahlweit

Der "Norden" ist seit Wochen das Lieblingswort aller britischen Politiker. Die Definition dessen, was das genau ist, differiert je nach Partei und Intention, klar ist nur: Es gilt für alles, was auf der Landkarte weit oberhalb der Hauptstadt und damit außerhalb der Anziehungskraft der politischen Blase liegt.

Labour sucht nach der Wahlniederlage vom Dezember einen neuen Parteichef, lieber noch eine neue Parteichefin, die "aus dem Norden" sein soll, weil vor allem in den alten Industriegebieten Wähler in Scharen desertiert sind. Boris Johnson wiederum will einen Teil der Verwaltung und des Tory-Hauptquartiers fern von London ansiedeln, wenngleich das wohl nur halb so tatkräftig umgesetzt wie demonstrativ angekündigt wird: Die Parteiführung selbst plant, wie verlautete, höchstens eine Dependance in einer anderen Stadt zu errichten und die Zentrale, natürlich, in der Metropole zu belassen.

In jedem Fall sagt Johnson, er wolle das Geld, das er nach dem Brexit mit vollen Händen im Land zu verteilen verspricht, vornehmlich im Norden investieren. Das klingt vernünftig, denn die meisten Investitionen - sei es in Infrastruktur, Städtebau, Ansiedlungspolitik oder Kultur - fließen seit Jahrzehnten nach London und Umgebung. Auch das steht allerdings schon wieder infrage: Nach Bekanntwerden explodierender Kosten für den Bau des Hochgeschwindigkeitszugs HS2, der den Norden erschließen soll, wird das Projekt jetzt noch einmal überdacht.

Aber irgendwas muss geschehen. Weil die Tories diesmal ungewohnt viele Stimmen von Labour-Wählern aus Mittel- und Nordengland bekommen hatten, hatte der dankbare Premierminister schließlich direkt nach der Wahl versprochen, diesen Regionen besondere Aufmerksamkeit zu erweisen - auf dass die neuen Fans der Tories nicht beim nächsten Urnengang zurückwechseln zur Konkurrenz. Der jüngste Schrei in der Bewegung ist deshalb ein besonders unerwarteter: Downing Street soll planen, das House of Lords mitsamt seinen knapp 800 Mitgliedern nach York umzusiedeln.

Tory-Parteimanager James Cleverly hatte im Fernsehen angemerkt, die Verlegung des Oberhauses sei eine von mehreren Möglichkeiten, den Norden aufzuwerten, kurz darauf meldete die Times, die Wahl sei auf York gefallen: 140 000 Einwohner, berühmte Kathedrale, mit dem Zug in zwei Stunden zu erreichen. Sogar ein Grundstück neben dem Bahnhof sei schon gefunden, ein Architektenwettbewerb geplant. Die Idee sei, dass "die Menschen Demokratie in Aktion aus erster Hand erleben", zitiert die Times einen Insider aus dem Umkreis des Premiers.

Die Begeisterung unter den Lords ist gering; der Plan sei "eine Idee aus Wolkenkuckucksheim", sagte einer. Kritiker mahnen, anstelle eines Umzugs sei eine politische Reform der so zahnlosen wie teuren Einrichtung nötig, um aus dem Oberhaus mehr zu machen als eine Entsorgungseinrichtung für abgehalfterte Politiker. Erst einmal müssen alle Parlamentarier demnächst wegen der Grundsanierung des baufälligen Gebäudes aus dem Westminster-Palast ausziehen. Allein die Debatte über dieses Projekt hatte Jahre gedauert. Die Lords ziehen nun quer über die Straße in ein Konferenzzentrum. Es ist ein Anfang.

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Quelle:
SZ vom 21.01.2020
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