Brexit:Obama löst in Großbritannien Sturm der Entrüstung aus

Nach seiner Warnung vor dem Brexit toben die Europa-Gegner in London - und erheben bizarre Vorwürfe gegen den US-Präsidenten.

Von Christian Zaschke, London

Während der amerikanische Präsident Barack Obama sprach, schaute der britische Premierminister David Cameron ihn immer wieder an, wie sonst nur junge Verliebte schauen. Obama sprach über die großen Themen und die kleinen.

Er erwähnte, wie die beiden Regierungschefs einst Tischtennis gespielt haben (Obama gewann), er hielt eine Eloge auf die Queen, die er am Mittag zum Essen auf Schloss Windsor getroffen hatte. Er sprach über die Bedrohung durch die Terrormiliz Islamischer Staat, über Flüchtlinge, er sprach nur einige Minuten, und doch schien es am Ende der kurzen Rede in der Downing Street in London so zu sein, als sei nun endlich alles über alles gesagt. Obama kann das.

Cameron ist beileibe kein schlechter Redner, aber nun, am späten Nachmittag eines Freitags, der sich in schönstem Londoner Niesel präsentiert hatte, stand er neben einem Mann, der ihm, dem guten Rhetoriker, als Redner weit überlegen ist. Der verliebte Blick war vielleicht in erster Linie der Dankbarkeit geschuldet.

Obama schreibt für britische Zeitung

Obama hatte seinen kurzen Besuch in Großbritannien dazu genutzt, nicht nur der Queen persönlich zum 90. Geburtstag zu gratulieren, sondern vor allen Dingen dazu, ein starkes Plädoyer für die britische Mitgliedschaft in der EU zu halten. Cameron will, dass Großbritannien in der EU bleibt, aber er sieht sich einer starken Opposition in der eigenen Partei gegenüber. Obama hat sich nun an seine Seite gestellt, und für die britischen EU-Gegner ist die Intervention viel klarer ausgefallen als erwartet.

Seit Tagen hatten sie gezetert, Obama solle sich aus der Debatte um einen möglichen EU-Austritt des Vereinigten Königreichs heraushalten. Sie hatten, ohne zu wissen, was Obama sagen würde, ihn sicherheitshalber schon einmal als Heuchler bezeichnet und womöglich gehofft, der Präsident würde in Anbetracht der Wut, die ihm entgegenschlug, das Thema EU bloß nebenbei erwähnen. Doch den Gefallen tat ihnen Obama nicht.

Ungefähr zur gleichen Zeit, zu der die Air Force One am Donnerstagabend auf dem Londoner Flughafen Stansted landete, liefen die ersten Ausgaben des Daily Telegraph aus den Druckerpressen. Dem konservativen Blatt war ein Scoop gelungen: Es veröffentlichte einen Gastbeitrag des Präsidenten, in dem sich dieser eindeutig für den Verbleib Großbritanniens in der EU aussprach. Später, in der Downing Street, wiederholte er sein Plädoyer.

EU-Austritt bringt wirtschaftliche Nachteile

Obama wählte die großen Worte. "Das Vereinigte Königreich bleibt ein Freund und Verbündeter der Vereinigten Staaten wie kein anderes Land", schrieb er, "unsere besondere Beziehung wurde geschmiedet, als wir gemeinsam Blut auf dem Schlachtfeld vergossen haben." Der Präsident rief die Briten dazu auf, stolz darauf zu sein, dass durch die EU britische Werte verbreitet würden - Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, offene Märkte. Die Europäische Union schränke den britischen Einfluss nicht ein, sondern sie vergrößere ihn. Für die Vereinigten Staaten und die Welt sei es wichtig, dass der große britische Einfluss innerhalb der Union erhalten bleibe.

Unter der Woche hatten sich bereits acht frühere US-Finanzminister zu Wort gemeldet und darauf hingewiesen, dass ein Austritt für Großbritannien wirtschaftliche Nachteile mit sich bringe. Auch das hatte zu Ärger im Austritts-Lager geführt. Dessen Vertreter weisen in jedem Interview darauf hin, dass Großbritannien jede Woche 350 Millionen Pfund nach Brüssel überweisen müsse.

Dieses Geld könne deutlich besser angelegt werden, zum Beispiel im Nationalen Gesundheitsdienst. Die Zahl berücksichtigt allerdings weder den britischen Rabatt noch die Tatsache, dass rund ein Drittel der Beiträge umgehend zurückfließt, zum Beispiel zur Unterstützung von britischen Bauern. Zuletzt hatte auch Finanzminister George Osborne eine Studie vorgelegt, derzufolge Großbritannien durch einen Austritt Milliarden Pfund verlieren würde.

Obama argumentierte allerdings nicht wirtschaftlich, sondern mit dem größeren Rahmen. Er verwies auf die Verantwortung des Vereinigten Königreichs im Weltgefüge. Mit Großbritannien sei die EU stärker, stabiler und habe mehr Einfluss. Und mit Großbritannien in der EU hätten die Vereinigten Staaten mehr Vertrauen in die transatlantische Partnerschaft.

Auch zur Beantwortung der Frage, ob es überhaupt angemessen sei für ihn als Amerikaner, sich in dieser zuvörderst britisch-europäischen Angelegenheit zu äußern, wählte Obama das große Register. Natürlich sei es letztlich eine Entscheidung der britischen Wähler, ob sie Mitglied der Union bleiben wollten oder nicht, schrieb der Präsident.

Bürgermeister Johnson macht Obamas Abstammung zum Thema

Dann folgte das große Aber: "Ich sage mit der Aufrichtigkeit eines Freundes, dass Ihre Entscheidung von höchstem Interesse für die Vereinigten Staaten ist. Zehntausende Amerikaner, die auf den Friedhöfen Europas liegen, geben in Stille Zeugnis davon, wie verwoben unser Wohlergehen und unsere Sicherheit in Wahrheit sind. Der Weg, den Sie nun einschlagen, wird auch die Zukunft der heutigen Generation von Amerikanern beeinflussen."

Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass diese Worte einen veritablen Sturm in Westminster ausgelöst haben. Unter den EU-Gegnern war es ein Sturm der Entrüstung. Angeführt wurden sie vom Londoner Bürgermeister Boris Johnson, der sich im Boulevardblatt The Sun und in mehreren Interviews äußerte. "Die Vereinigten Staaten bewachen ihre Demokratie mit mehr eifersüchtiger Hysterie als jede andere Nation der Erde", schrieb er. Daher sei Obamas Intervention ein "atemberaubendes Beispiel" für die Haltung: Tue, was ich sage, aber nicht, was ich tue. "Das ist inkohärent, inkonsistent und, ja, heuchlerisch."

Besondere Aufregung verursachten Johnsons bizarre Vorwürfe, der Präsident sei "teilweise kenianischer Abstammung" - und die "Abneigung seiner Vorfahren gegen das Britische Empire" könnte der Grund dafür sein, dass Obama eine Büste von Winston Churchill aus dem Weißen Haus habe entfernen lassen. Tatsächlich stand zur Amtszeit von Obamas republikanischem Vorgänger George W. Bush eine Churchill-Büste des Bildhauers Jacob Epstein im Oval Office. Diese war eine Leihgabe des früheren Premierministers Tony Blair und wurde absprachegemäß nach Ende von Bushs Amtszeit zurückgegeben.

Heute steht sie in der Residenz des britischen Botschafters in Washington. Am Nachmittag schlug Nigel Farage, Chef der EU-feindlichen UK Independence Party (Ukip), in die gleiche Kerbe. Obamas kenianische Vorfahren seien aufgrund des Kolonialismus antibritisch, sagte er. Wenn Obama sich als Freund des Vereinigten Königreichs bezeichne, führte er aus, müsse man ja nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen.

Parteiübergreifend kritisierten mehrere Abgeordnete Johnson scharf. Schattenfinanzminister John McDonnell bezichtigte ihn des Rassismus und forderte, er solle die Äußerung zurückziehen. Johnsons konservativer Parteifreund Nicholas Soames nannte die Aussage "ungeheuerlich".

Ukip-Abgeordneter rückt Hilfe der USA im Weltkrieg in ein schiefes Licht

Hätte der Präsident die Debatten in Westminster verfolgt, wäre er vermutlich von Wucht und Wut mancher Aussagen überrascht gewesen. Der Ukip-Europa-Abgeordnete Mike Hookem fand es "irgendwie krank", dass Obama auf den Tod von Soldaten verweise, um die gemeinsamen Verbindungen zu betonen. Überdies hätten die Vereinigten Staaten im Zweiten Weltkrieg zunächst die Chance gesehen, den britischen Einfluss in der Welt einzudämmen. In den Krieg seien sie erst eingetreten, nachdem die Briten darum gebettelt hätten.

Im Vergleich dazu nahmen sich die Stimmen fast harmlos aus, die dem Präsidenten Doppelzüngigkeit vorwerfen. Der konservative Abgeordnete Dominic Raab sagte, Obama messe "mutwillig mit zweierlei Maß", denn die USA würden zum Beispiel niemals erlauben, dass die Grenze zu Mexiko geöffnet werde. Der frühere US-Diplomat James Rubin betrachtete all den Trubel derweil mit einigem Amüsement. Zur Aufregung um Obamas Einlassungen sagte er gelassen: "Wissen Sie, wir haben in Amerika ein Sprichwort: Ein Freund lässt einen Freund nicht betrunken fahren."

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