Die Tage werden kürzer, die Ernte beginnt und die Schwalben fliegen nach Süden. Das sind im Vereinigten Königreich banale Anzeichen dafür, dass es wieder so weit ist: Es ist Conference Season. Im politischen Jahreskalender sind die Wochen der „Party Conferences“, der Parteitage, immer ein frühherbstlicher Höhepunkt, die Stimmung davor ist ein wenig wie vor dem Schulausflug zur Isle of Wight in der sechsten Klasse: voller Vorfreude, aber auch voller Nervosität, denn wer weiß schon, was alles Aufregendes passieren wird. Keir Starmer ergeht es wahrscheinlich ähnlich, wobei sich das mit der Vorfreude anders verhalten dürfte als im Vorjahr. In Liverpool 2023 war der Labour-Parteitag eine viertägige Triumph-Veranstaltung für den damaligen Oppositionschef. Aber jetzt ist Labour in der Regierung und Keir Starmer Premierminister. Jetzt ist der Spaß vorbei.
Zu den Traditionen der Parteitags-Saison gehört auch, dass der Premierminister kurz vorher von den BBC-Lokalradiostationen interviewt wird, fast einen ganzen Tag lag. Das ist immer ein Spektakel, die Lokalradio-Moderatoren betrachten das ja als ihre eine Chance, den Premierminister so vorzuführen, dass es die Zitate in die Abendnachrichten und auf die Titelseiten schaffen. Liz Truss hat sich in ihrer sagenhaft chaotischen Zeit als Premierministerin bei dieser Gelegenheit derartig amateurhaft durch den Tag gestammelt und geschwiegen, dass auch dem letzten Zuhörer klar wurde, dass das Land dringend einen neuen Premierminister braucht. Rishi Sunak war souveräner im vergangenen Jahr, aber der Verfall der Tories war da schon so weit fortgeschritten, dass er sich Fragen gefallen lassen musste wie jene, ob er es nicht auch peinlich finde, wie die Tories dieses Land regierten. Und Starmer?
Bei den Inquisitoren des BBC-Lokalradios
Mit ihm werde alles anders, das war das Versprechen, mit dem er zur Wahl im Juli angetreten ist. „Change“, Wechsel, stand auf allen Wahlplakaten, und wie die Times aus der Parteizentrale erfahren haben will, soll dies das Motto für den am Sonntag beginnenden Parteitag sein: „Change begins“. Als Keir Starmer dann am Donnerstag den Inquisitoren des BBC-Lokalradios gegenübersaß, hörte sich vieles doch wieder ähnlich an wie in den Tory-Jahren.
„Sie werden mit viel Schlamm beworfen, wird das an Ihnen kleben bleiben?“, fragte der Mann von BBC West. „Einige in Ihrem Team sind eindeutig sehr unglücklich“, sagte die Frau von BBC South East. „Haben Sie eigentlich noch die Kontrolle in No. 10?“
Natürlich, sagte Starmer, „ich habe die volle Kontrolle“. Aber es ist kein gutes Zeichen, wenn ein Premierminister sich gezwungen sieht, das nach nur elf Wochen im Amt zu betonen.
Die Labourregierung hat in kurzer Zeit tatsächlich einiges angestoßen
Eigentlich wollte Starmer darüber reden, was seine Regierung in dieser kurzen Zeit schon erledigt oder angestoßen hat. Und das ist tatsächlich nicht wenig: Eine staatliche Energiefirma gegründet, einen neuen Ton im Umgang mit der EU gesetzt, einen Gesetzesvorschlag zur Verstaatlichung des Personenzugverkehrs eingebracht, Reformvorschläge für das Oberhaus vorgestellt, ein neues parlamentarisches Gremium gegründet, das „Modernisation Committee“, das zuerst dafür sorgen will, dass Zweitjobs für Abgeordnete verboten werden – und noch anderes. Doch stattdessen geht es, während Labour nach Liverpool fährt, fast nur noch darum, wie oft sich Keir Starmer zum Fußball hat einladen lassen. Und wer die Kleidung seiner Frau bezahlt hat.
Mithilfe des öffentlichen Registers für Spenden und Geschenke an Abgeordnete kann man ausrechnen, dass Keir Starmer, seit er 2020 Labour-Chef wurde, 107 145 Pfund an Gefälligkeiten meldete, mehr als alle anderen Abgeordneten, darunter neue Brillen, neue Anzüge und Tickets für Fußballspiele. Teil der Wahrheit ist zwar auch, dass viele Tories derlei nicht nötig haben, weil sie durch hoch dotierte Zweitjobs ein Vielfaches ihres Gehalts dazuverdienen. Aber Starmer selbst hatte eben oft betont, dass er für eine neue Form von Politik und einen neuen Typus Politiker stehen wolle. Seit aber Starmers Team vor anderthalb Wochen – ordnungsgemäß, aber zu spät – meldete, dass ein Großspender der Partei einen Klamottenkauf von Victoria Starmer im Wert von 5000 Pfund bezahlte, wird er das Thema nicht mehr los. Dass der Großspender bis vor Kurzem wegen seiner Rolle während des Wahlkampfs noch einen vorübergehenden Zugangspass zu Downing Street hatte, macht die Sache nicht einfacher.
Seine Stabschefin soll mehr verdienen als der Premierminister selbst
Diese Woche kam ein weiteres Problem hinzu: Die BBC hatte aus Downing Street das Gehalt von Starmers Stabschefin Sue Gray zugespielt bekommen. Demnach soll sie 170 000 Pfund jährlich verdienen, mehr als ihre Tory-Vorgänger – und mehr als der Premierminister selbst.
Starmer wollte das in seinen Interviews nicht kommentieren, auch sonst hält er bislang daran fest, sich für nichts zu entschuldigen. Fußballspiele seines geliebten FC Arsenal etwa könne er nun mal nur mithilfe der vom Verein zur Verfügung gestellten Hospitality-Tickets in der VIP-Box besuchen, wegen der nötigen Sicherheitsvorkehrungen, wenn er seine Dauerkarten im Stadion nutzen würde, die er seit vielen Jahren hat. Der Parteitag in Liverpool bietet ihm jetzt die Gelegenheit, seine eigenen Themen zu setzen, aber es dürfte keine einfache Conference für Starmer werden.
Der FC Arsenal übrigens, aktuell Tabellenzweiter der Premier League, spielt am Sonntagnachmittag auch, gegen Manchester City, den Ersten und Meister der vergangenen vier Jahre. Es wird, so viel kann man sagen, das schwerste Spiel in dieser Saison.