Großbritannien:Konservative gewinnen - aber siegen nicht

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Großbritannien steht eine spannende Regierungsbildung bevor: Prognosen zufolge sind die Konservativen stärkste Partei - dennoch könnte Premier Brown im Amt bleiben.

Die Konservativen haben die Nase vorn, Labour verliert, gibt sich aber nicht geschlagen - und die Liberaldemokraten erleben eine herbe Enttäuschung: Bei der Parlamentswahl in Großbritannien gibt es erstmals seit 1974 keine klare Entscheidung. Das Motto: hung parliament.

Wer wird der nächste Bewohner des Hauses in der Downing Street mit der markanten Hausnummer 10? Diese Frage bleibt auch nach der Auszählung erster Wahlkreise offen. (Foto: Foto: dpa)

Bei lediglich noch 2 auszuzählenden von insgesamt 650 Wahlkreisen kommen die Tories auf 305 Sitze. Die zur Alleinregierung notwendige absolute Mehrheit von 326 Sitze können die Konservativen nicht mehr erreichen. Die regierende Labour-Partei gewinnt bis dato 258 Wahlkreise. Die Regierungsbildung könnte somit zur Hängepartie und zum Poker um die Macht werden.

"Lib Dem" unzufrieden - aber nicht hoffnungslos

Die Liberaldemokraten bleiben in den Prognosen mit 57 Sitzen weit hinter den hochgesteckten Erwartungen zurück. "Das war eine enttäuschende Nacht. Wir haben einfach nicht das erreicht, was wir uns erhofft haben", sagte Parteichef Nick Clegg.

Die Partei könnte allerdings noch als möglicher Koalitionspartner die politische Zukunft Großbritanniens mitbestimmen. Am Samstag wollen die Liberaldemokraten über eine mögliche Zusammenarbeit und eine denkbare Regierungsbildung mit den konservativen Tories oder der Labour-Partei entscheiden. Clegg deutete in London eine Präferenz seiner Partei zur Zusammenarbeit mit den Konservativen an. Er sagte, die Partei mit den meisten Stimmen und den meisten Sitzen habe das Recht, eine Regierung zu bilden. "Und bei dieser Haltung bleibe ich."

Verstärktes Augenmerk richtet sich nun auch auf die Rolle der Königin: Sie empfängt normalerweise am Tag nach der Wahl den neuen Premierminister. In der diesmal undurchsichtigen Lage hielt sich Elizabeth II. zunächst betont zurück.

Freude bei den Grünen Großbritanniens: Erstmals konnte die Partei einen Sitz im Londoner Unterhaus erringen. Den ersten Auszählungsergebnissen zufolge gewann Parteichefin Caroline Lucas den Wahlkreis Brighton Pavilion an der englischen Südküste. Lucas saß seit 1999 als Abgeordnete im Europäischen Parlament.

Mit dem amtlichen Endergebnis wird bestenfalls am Freitag gerechnet.

Brown gibt nicht auf

Labour machte trotz der Niederlage noch in der Nacht ihren Machtanspruch deutlich. Formell hat der amtierende Premierminister das erste Recht, eine Regierungsbildung anzugehen - es sei denn, er tritt davon freiwillig zurück.

Wie aus Regierungskreisen verlautete, will Brown versuchen, mit einer Koalition an der Regierung zu bleiben, falls die Parlamentswahl keine klaren Mehrheitsverhältnisse ergibt. Er müsste allerdings nach Lage der Dinge noch weitere Partner ins Boot holen - eine völlig neue Situation im Königreich.

Brown ist seit drei Jahren Premier. Er hatte das Amt 2007 von Tony Blair übernommen, der zehn Jahre regiert hatte.

Noch in der Nacht wurde auch über eine mögliche Nachfolge Browns als Parteichef spekuliert, falls dieser gehen muss. Doch so schnell will sich der Finanzexperte offenbar nicht ausmanövrieren lassen: Der Premier verwies in seinem schottischen Wahlkreis Kirkcaldy and Cowdenbeath auf die Erfolge seiner Regierungsarbeit. "Meine Pflicht gegenüber diesem Land wird es nach der Wahl sein, meinen Teil dazu beizutragen, dass Großbritannien eine starke, stabile und richtungsweisende Regierung hat."

Doch sein Herausforderer Cameron präsentierte sich nach den ersten Stimmauszählungen selbstbewusst und erklärte in seinem Wahlkreis Witney: "Ich glaube, es ist klar, dass die Labour-Regierung ihr Mandat verloren hat, unser Land zu regieren." Auch Ken Clarke, wirtschaftspolitischer Sprecher der Konservativen, sagte: "Gordon Brown kann auf keinen Fall als Premierminister weitermachen. Er hat alle Autorität zum Regieren verloren."

Labours Strippenzieher, Wirtschaftsminister Peter Mandelson, pocht jedoch auf das Recht einer amtierenden britischen Regierung: "Die Regel bei einem Parlament ohne klare Mehrheitsverhältnisse ist, dass nicht die Partei mit der größten Zahl der Sitze als erstes zum Zug kommt, sondern die amtierende Regierung."

Wähler wurden weggeschickt, Stimmzettel fehlten

In einigen Stimmbezirken bahnte sich noch in der Wahlnacht ein juristisches Nachspiel an: Hunderte Wähler, die sich rechtzeitig in den Schlangen vor den Wahllokalen angestellt hatten, kamen nicht mehr zum Zug und wurden weggeschickt. In anderen Wahllokalen gingen derweil wegen des Andrangs die Stimmzettel aus. Das könne dazu führen, dass die Ergebnisse angefochten werden, erklärte am frühen Freitagmorgen die Vorsitzende der Wahlkommission, Jenny Watson.

Bei einem Wahllokal wurde die Polizei gerufen, als es zu einer Protestdemonstration kam. Probleme gab es demnach unter anderem in Milton Keynes in Südengland und in Sheffield, wo der Führer der Liberaldemokraten, Nick Clegg, einen Sitz hat, und in Newcastle in Nordengland.

Die Wahlbeteiligung wurde bei etwa 64 Prozent erwartet - bei der letzten Wahl 2005 waren 61,4 Prozent der Wahlberechtigten zur Urne gegangen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, welcher Zwischenfall Wähler in Nordirland in Angst und Schrecken versetzte.

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Nicht ohne Zwischenfälle verlief auch die Wahl in Nordirland: Dort wurde vor einem Wahlbüro ein Fahrzeug mit einer Autobombe entdeckt. In dem geklauten Auto vor dem Templemore-Freizeitzentrum in Londonderry, der zweitgrößten Stadt Nordirlands, habe sich ein funktionsfähiger Sprengsatz befunden, teilte die Polizei mit.

Die Konservativen unter David Cameron haben offenbar die meisten Sitze. (Foto: Foto: AP)

Das Freizeitzentrum, in dem die Stimmen der Wahlkreise Foyle und East Londonderry für das neue britische Unterhaus ausgezählt wurden, sei evakuiert worden. Die Wahlhelfer sowie Unterstützer verschiedener Parteien hätten das Gebäude verlassen müssen. Die Auszählung sei allerdings später fortgesetzt worden, sagte eine Polizeisprecherin.

Kein guter Abend für Robinson

Der nordirische Regierungschef Peter Robinson verurteilte den Anschlagsversuch. "Es ist entscheidend, dass wir nicht zu den schlimmen alten Tagen der Vergangenheit zurückkehren, auch wenn es diejenigen gibt, die uns dort hintreiben wollen", sagte Robinson mit Blick auf den beigelegten Nordirland-Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten. Die Wahlen in Nordirland waren von strengen Sicherheitsvorkehrungen begleitet. Vorab war vor gewaltbereiten katholischen Splittergruppen gewarnt worden.

Für den Regierungschef Nordirlands war es kein guter Wahlabend: Er verlor sein Parlamentsmandat. "Natürlich wird es viele Menschen geben, die ihre eigenen Schlüsse aus meiner Niederlage ziehen werde", sagte ein zerknirscht drein blickender Robinson zu seiner Abwahl im Wahlbezirk East Belfast.

Robinson hatte nach einem Skandal um seine Frau Iris seine Amtsgeschäfte als nordirischer Regierungschef sechs Wochen lang ruhen lassen. Eine interne Untersuchung sprach ihn schließlich von jeglichem Fehlverhalten frei.

Der Politiker der protestantischen Democratic Unionist Party kann aber weiter der Regierung in Belfast vorstehen, weil er noch Abgeordneter im nordirischen Parlament ist.

Ungewohnte Situation

Diese Wahl in Großbritannien ist in vielerlei Hinsicht besonders. Die Briten sind es eigentlich gewohnt, am Donnerstag zu wählen und am Freitag eine neue Regierung zu haben. Bei einem Parlament mit unklaren Mehrheiten kommt es aber auf das Verhandlungsgeschick der Kandidaten an. Cameron könnte - stimmen die Prognosen - eine Minderheitsregierung bilden.

Sollte Brown von seinem Vorrecht zur Regierungsbildung Gebrauch machen, würde er wohl vor allem die Liberaldemokraten umwerben. Trotz Übereinstimmungen mit Labour in ihren politischen Positionen dürfte die Bereitschaft der "Lib Dems" aber gering sein, dem unpopulären Brown zu einer weiteren Amtszeit als Premier zu verhelfen.

Möglich ist aber auch, dass Cameron der nächste britische Regierungschef wird. Der Konservative könnte eine Koalitionsregierung bilden oder einer Minderheitsregierung vorstehen.

Fest steht jedenfalls, dass zahlreiche Neulinge im Parlament am Themse-Ufer in London Platz nehmen werden. Nach dem Spesenskandal, bei dem Abgeordnete sowohl Rattengift als auch die Reinigung ihres Tennisplatzes dem Steuerzahler in Rechnung gestellt haben, waren viele Parlamentarier erst gar nicht mehr angetreten.

© dpa/Reuters/apn/AFP/wolf - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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