Alastair Campbell kennt sich aus mit Bildern und Stimmungen, er war der Medienchef von Tony Blair, er war das, was man einen "Spin Doctor" nennt: der Herr über die News, die von und über Blair produziert wurden. Campbell galt als PR-Genie, was zwangsläufig mit sich bringt, dass ihn die britischen Medien nicht besonders mochten, Medien produzieren ihre Schlagzeilen und Bilder prinzipiell ja lieber selbst. Ohne Campbell aber, daran zweifelt bis heute niemand, wäre Blair kaum der am längsten regierende Labour-Premierminister der britischen Geschichte geworden. Frage also jetzt an Alastair Campbell: Was ist davon zu halten, was am Sonntag in Liverpool passierte?
In Liverpool hält die Labour-Partei derzeit ihren Parteitag ab, vier Tage lang wird seit Sonntag im Konferenzzentrum an den Docks getagt, diskutiert und abgestimmt. Parteitage sind im politischen Jahreszyklus wie Weihnachtsferien, alle kommen zusammen, reden und lachen, gehen abends in Bars, und am Schluss werden Pläne für das neue Jahr formuliert. Der Parteitag 2022 ist für Labour der wichtigste seit Jahren: Die von Johnson schon arg geplagten Tories stolpern unter Liz Truss gerade von einem Desaster zum nächsten. Die Stimmung ist schlecht im Land und damit fruchtbar für die Opposition. In einer Yougov-Umfrage am Wochenende betrug der Vorsprung von Labour auf die Tories 17 Prozent, das ist der höchste Vorsprung seit 2001, seit Tony Blair.

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Am Sonntag, zum Auftakt des Parteitags, standen Keir Starmer und seine Kollegen von der Parteiführung auf der großen Bühne im modernen Saal, über ihnen hing ein gewaltiger Bildschirm, auf dem ein Foto der Queen gezeigt wurde. Alle im Saal standen auf und sangen gemeinsam die Hymne, die neue Version: God Save the King. Die republikanisch-linke Labour-Partei singt gerührt die Hymne, das gab es noch nie.
In Liverpool ist von Jeremy Corbyn nichts zu sehen
Campbell ist diese Woche nicht in Liverpool, er ist ausgetreten aus der Partei und genießt seine Freiheit, wie er sagt. Die Hymne, sagt der 65-Jährige am Telefon, nun: "Bilder sind wichtig, und Keir will zeigen, dass sich die Partei verändert hat." Daher verstehe er das mit der Hymne. Unter Starmers Vorgänger Jeremy Corbyn positionierte sich Labour so weit links, dass die Mehrheit der Briten sie nicht mehr sahen. Corbyn ist inzwischen wegen Antisemitismusvorwürfen ausgeschlossen worden, beim Parteitag in Brighton im vergangenen Jahr war er trotzdem überall, hielt Reden für seine Anhänger, und drinnen im Saal stritt die Partei. Am Ende aber gewann Starmer.
In Liverpool ist weder von Corbyn noch seinen Anhängern etwas zu sehen. Starmer hat Labour reformiert, mit einer Zielstrebigkeit, die nicht allen gefiel, 120 000 Mitglieder traten aus, seit er im Januar 2020 den Vorsitz übernahm. Campbell sieht darin kein größeres Problem, warum auch? Labour ist jetzt eine kleinere Partei, aber mit größerer Harmonie.
Auch deshalb war das Bild mit der Hymne so wichtig für Starmer, niemand rief dazwischen, niemand störte, alle sangen. Aber Bilder funktionieren nur mit Inhalten, und deshalb ist Campbell etwas weniger begeistert als manche Teilnehmer, mit denen man in diesen Tagen in Liverpool spricht. Er fände es wichtig, sagt Campbell, dass die Partei "noch mehr über die Wirtschaft redet", und zwar ohne sich dabei in Details zu verlieren, "denn das kann bei solchen Themen schnell passieren". Simple Slogans, verständliche Inhalte, neue Ideen, alles in Dauerschleife, so lief die New-Labour-Maschine in den 1990ern. Politik-PR funktioniert noch immer so, gerade in Zeiten von Tweets und Posts.
Die Wirtschaft ist zurzeit das zentrale Thema in der britischen Politik. Dass die konservative Regierung die Lage eher verschlimmert als verbessert hat, ist eine Chance für Labour - in Sachen Finanzen verkörpert von Rachel Reeves, die in Starmers Schattenkabinett Schatzkanzlerin ist. Sie stellt in ihrer Rede am Montag einige Kernpunkte ihrer Politik vor, die Rückkehr des von den Tories gerade abgeschafften Spitzensteuersatzes für die höchsten Einkommensklassen etwa, oder auch einen "genuine living wage", einen Mindestlohn, der nicht mehr Mindestlohn heißen und ein wenig höher liegen soll.
Starmer wirkte stets seriös - aber wenig mitreißend

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Vor allem wiederholt sie immer wieder einen Satz: "Es ist Zeit für eine Regierung, die auf Ihrer Seite steht, und diese Regierung ist eine Labour-Regierung." Fünfmal sagt sie den Satz, im Englischen klingt er etwas prägnanter. Jedes Mal ist der Applaus im Saal ein wenig lauter, am Schluss springen die Mitglieder auf und jubeln, als hätte Rachel Reeves gerade den Wahlsieg verkündet.
Keir Starmer ist sechzig und damit 17 Jahre älter als Reeves, in seinen zweieinhalb Jahren als Parteichef sind die Menschen nicht immer begeistert aufgesprungen, wenn er sprach. Er hat sich einen Ruf erarbeitet: stets kompetent, seriös und ruhig wirkend, aber wenig mitreißend und bisweilen zu akademisch. Aber Starmer hat offenbar erkannt, dass es hilft, wenn er manchmal weniger als der Generalstaatsanwalt auftritt, der er früher war. Am Montagabend haben sie dafür sogar eine eigene Veranstaltung ins Programm genommen, zwischen Abstimmungen und Wortbeiträgen: ein Gespräch zwischen Keir Starmer und Gary Neville, den früheren Nationalspieler und Fußballer von Manchester United.
Als Neville sich neben Starmer setzt, dreht sich hinten im Saal eine Frau, schwarze Chucks, rote Jeans, zu ihrem Nebenmann und fragt: "Wer ist das?" Neville, Fußballer. Aha, sagt die Frau, nie gehört. Sie wirkt ein bisschen genervt.
Doch es ist eine unterhaltsame Stunde, Starmer spricht über seine Liebe zu Arsenal, erzählt von Erinnerungen an Tore in den Achtzigerjahren. Neville, der als TV-Experte Spiele analysiert und bekannt ist für sein politisches Interesse, sagt: Es sei wichtig, dass sich "alle hinter Keir" vereinten. Denn Keir, sagt Neville, habe alles, was ein guter Premierminister brauche, er sei kompetent, seriös, integer. "Absolutely", ruft die Frau, sie applaudiert jetzt.
Die Begeisterung während Starmers fünfzigminütiger Rede ist riesig
Als Starmer dann am Dienstagnachmittag zu seiner Abschlussrede auf die Bühne tritt, fällt zunächst auf: Er ist nicht allein. Auf der Bühne wurden zusätzliche Plätze für Zuschauer eingerichtet, es erinnert an Bilder, die man aus dem US-Wahlkampf kennt. Der Leader im Zentrum, umgeben von seinen Fans und Wählern.
"Die Regierung hat die Kontrolle über die britische Wirtschaft verloren", sagt Starmer, "don't forget, don't forgive", vergessen Sie nicht und vergeben Sie nicht. Er wirft Zahlen in den Raum, 10 000 neue Krankenschwestern für das Gesundheitswesen etwa, und verkündet, Labour werde im ersten Jahr in der Regierung einen staatlichen Energiekonzern namens "Great British Energy" gründen. Das Vereinigte Königreich soll, so nennt er es, eine "clean energy superpower" werden. Starmer spricht sogar das B-Wort an: "Ich habe für Remain gestimmt", sagt Starmer, gegen den Brexit. Er wolle den Brexit nicht rückgängig machen, sondern "dafür sorgen, dass der Brexit funktioniert".
Starmers Rede unterschiedet sich nicht groß von seinen früheren Reden, sie ist gut, aber nicht umwerfend. Aber Parteitagsreden bieten selten Momente, an die man sich wegen ihres Inhalts erinnert. Es geht mehr darum, wie die Partei reagiert: Bilder und Stimmungen. Im vergangenen Jahr in Brighton gab es immer wieder Zwischenrufe und Störungen. Jetzt, im September 2022, spiegelt sich die Atmosphäre in Starmers Partei am anschaulichsten im Gesicht des Schatten-Außenministers David Lammy wider.
Als Starmer den Saal auffordert, gemeinsam "Slava Ukraini" zu rufen, Ruhm der Ukraine, springen viele auf und klatschen beglückt. Die Kameras fangen in Nahaufnahme ein, wie Lammy auf die Bühne zu Starmer hinaufschaut. Er hat feuchte Augen.