Es gibt im Englischen den Ausdruck rise above the noise, sich über den Lärm erheben. In der Politik heißt das, sein Tun und Reden nicht abhängig zu machen von dem, was andere sagen, rise above the noise ist gerade in der politischen Kommunikation eine althergebrachte Strategie, die Souveränität ausstrahlen soll. Keir Starmer, der britische Premierminister, ist eigentlich ein Anhänger dieser Strategie. Das Problem ist jetzt nur, dass in einer Zeit, in der Menschen wie Donald Trump Präsident werden und sich von Menschen wie Elon Musk beraten lassen, Althergebrachtes nicht mehr funktioniert. Der Lärm ist oft so laut, dass er einen verschlucken kann, und dass Schweigen dann aussieht wie Hilflosigkeit. Am Montag, dem ersten Tag nach der Weihnachtspause im britischen Parlament, entschied sich Keir Starmer daher gegen das Schweigen.
Starmer stellte auf einer Pressekonferenz neue Maßnahmen zur Reform des Gesundheitswesens vor, aber es war schon vorher klar, dass es in der Fragerunde mit den anwesenden Reportern der britischen Medien weniger um das Gesundheitswesen gehen würde, sondern mehr um den leidenschaftlichen Lärmverursacher Elon Musk. Der reichste Erdenbürger und (zumindest derzeit noch) enge Berater des baldigen US-Präsidenten Donald Trump kommentiert über die von ihm erworbene Plattform X seit Monaten die Politik anderer Länder, das Vereinigte Königreich ist dabei eines seiner Lieblingsthemen. Schon im Wahlkampf im vergangenen Sommer bewarf er die Labour-Partei aus der Ferne mit verbalem Schmutz. Vor ein paar Tagen hat er die Schmutzkanone noch einmal eine Stufe höher gestellt.
Musk legt sich nun auch mit einem alten Freund an
Die Staatssekretärin Jess Phillips, die sich seit Jahren für die Rechte von Frauen und Kindern einsetzt, bezeichnete er als „böse Hexe“, die „Massenvergewaltigung verharmlosen“ würde und daher „ins Gefängnis“ gehöre, genauso übrigens wie Starmer selbst. Das Königreich brauche selbstverständlich Neuwahlen, wobei Musk nebenbei auch noch schrieb, die rechte Partei Reform UK brauche einen neuen Chef: Nigel Farage, der Musk erst vor Kurzem in den USA besucht hatte und der den Milliardär gerne als Freund und künftigen Parteigroßspender bezeichnet, habe „nicht das Zeug dazu“. Farage weigert sich bislang, Musks Forderung nachzukommen, er solle sich für den derzeit inhaftierten Neonazi Tommy Robinson einsetzen, den Musk allen Ernstes als „politischen Gefangenen“ bezeichnet. Es war alles, wie so oft in Musks Fall, faktisch falsch und inhaltlich irr.
Starmer sagte nun, er wolle eigentlich gar nicht über Elon Musk reden, es gehe hier ja um eine viel grundsätzlichere Frage, nämlich den Umgang in der Politik. Er sagte dann aber doch Sätze, in denen es vor allem um Musk ging, Starmer sagte etwa: „Diejenigen, die Lügen und Falschinformationen verbreiten, und zwar so weitreichend wie möglich, interessieren sich nicht für die Opfer (von Gewaltverbrechen), sie interessieren sich nur für sich selbst.“ Die Anschuldigungen gegenüber Jess Phillips hätten eine Linie überschritten, sie und andere Politiker würden Drohungen erhalten, und zwar wegen des „Gifts von ultrarechts“. Und was Tommy Robinson angehe: Diejenigen, die sich für ihn einsetzten, „sind nicht an Gerechtigkeit interessiert“. Robinson, der eigentlich Stephen Yaxley-Lennon heißt, wurde im Oktober zu 18 Monaten Haft verurteilt, weil er mehrere Gerichtsauflagen verletzte und wiederholt Falschaussagen über einen syrischen Flüchtling verbreitete.
Und dann sprach Starmer noch über die Tories. Er sei „sehr besorgt, in welche Richtung die Tories sich in dieser Angelegenheit bewegen“. Parteichefin Kemi Badenoch unterstützte Musks krasse Wortwahl zwar bisher nicht, kritisierte sie aber auch nicht. Stattdessen bekräftigte sie (ebenfalls auf X) Musks Forderung nach einer von der Regierung in Auftrag gegebenen Untersuchung in Sachen „grooming gangs“. Hintergrund ist dabei ein Skandal, den die Times im Jahr 2011 aufdeckte: Im Norden Englands waren von der Polizei Informationen über massenhafte Missbrauchsfälle von Mädchen zurückgehalten worden, darunter die Herkunft der Täter, aus Sorge vor rassistisch motivierten Reaktionen. Eine 2022 veröffentlichte Untersuchung kam zu dem Schluss, zwischen 1997 und 2013 seien rund 1400 Kinder von vorwiegend britisch-pakistanischen Männern missbraucht worden, sogenannten „grooming gangs“ also.
Im Detail – und in Musks Falschanschuldigungen – geht es auch um einzelne Fälle aus dieser Zeit, in denen die Anklage wieder fallen gelassen wurde. Eine von der Regierung vorgenommene Untersuchung zu den Ereignissen jener Zeit lehnt die inzwischen zuständige Staatssekretärin Jess Phillips bislang ab und empfiehlt stattdessen eine Untersuchung durch die zuständige Stadtverwaltung, was in solchen Fällen nicht nur üblich ist, sondern auch von Phillips’ Tory-Vorgängerin so gehandhabt worden war.
Keir Starmer war damals Chef der nationalen Strafverfolgungsbehörde Crown Prosecution Service (CPS), er sagte 2012, Strafverfolgung solle „nicht vor Fragen der Herkunft von Tätern zurückschrecken“. Er reformierte die Art, wie der CPS mit solchen Fällen umzugehen hat, und gab eine nationale Analyse aller Fälle von Kindesmissbrauch in Auftrag. Von den involvierten Behörden wurde Starmer damals dafür gelobt, die Strafverfolgung in solchen Fällen erleichtert zu haben.