Süddeutsche Zeitung

Großbritannien:Wie Londons Bürgermeister David Cameron aus der Fassung bringt

  • Der britische Premierminister Cameron ist zum ersten Mal nach der mit der EU ausgehandelten Reformvereinbarung vor dem Parlament aufgetreten und wurde dabei auch von Londons Bürgermeister Boris Johnson befragt.
  • Johnson hatte sich gestern überraschend auf die Seite der Austrittsbefürworter und damit gegen Cameron gestellt.
  • Auch zahlreiche weitere konservative Abgeordnete und einige Minister haben sich für den "Brexit" ausgesprochen. Sie bemängeln unter anderem, dass auch nach der neuen Vereinbarung gewisse Kompetenzen bei der EU und nicht bei dem nationalen Parlament liegen.

Von Christian Zaschke, London

Selbstverständlich war es David Cameron nicht anzusehen, dass er am Sonntag einen schweren Schlag hatte hinnehmen müssen. Der britische Premierminister verfügt über die Gabe, besonders in Krisen so zu wirken, also komme er gerade aus dem Urlaub in Cornwall zurück. Er trug eine sehr gesunde Gesichtsfarbe zur Schau und machte einen nachgerade tiefenentspannten Eindruck. Cameron trat am Montagnachmittag erstmals im Parlament auf, nachdem er Ende der vergangenen Woche in Brüssel einen Deal ausgehandelt hatte, der das Verhältnis Großbritanniens zur EU neu regeln soll.

Auf Grundlage dieses Deals hat er für den 23. Juni eine Volksabstimmung über die Mitgliedschaft in der Union anberaumt. Am Sonntag hatte Cameron zur Kenntnis nehmen müssen, dass der eminent populäre Londoner Bürgermeister Boris Johnson sich dem Lager der EU-Gegner angeschlossen hat. Johnson schickte dem Premier eine SMS, in der er ihn über seine Position informierte. Wenige Minuten später trat er vor die Presse, die sich vor seinem Haus in Nord-London versammelt hatte, und verkündete seine Entscheidung.

Der Lärmpegel im Parlament verheißt nichts Gutes für Cameron

Im Unterhaus trafen die beiden Politiker erstmals seit Johnsons Ankündigung zusammen. Zunächst verlas Cameron eine Erklärung, in der er seinen Deal pries und erneut eindrücklich dafür warb, dass Großbritannien in der EU bleiben müsse. Anschließend nahm er Fragen entgegen, und Johnson ließ es sich nicht nehmen, eine zu stellen.

Als der Sprecher des Unterhauses Johnson aufrief, stieg der Lärmpegel im Parlament deutlich - die EU-kritischen unter den konservativen Abgeordneten verliehen ihrer Freude darüber Ausdruck, dass der Londoner Bürgermeister sich ihnen angeschlossen hat. Für Cameron mag diese Geräuschkulisse ein wenig bedrohlich geklungen haben, denn sie zeigte ihm, dass signifikante Teile seiner Fraktion in der EU-Frage nicht auf seiner Seite sind. Nach jüngsten Schätzungen wird sich die Hälfte der Abgeordneten gegen den Chef stellen.

Johnson genoss den Lärm, er wartete eine Weile, bis er seine Frage formulierte, dann wollte er wissen, inwieweit der Brüsseler Deal dem britischen Parlament mehr Souveränität verleihe.

Johnson erklärt, er liebe Europa - aber nicht das politische Projekt EU

Cameron wirkte bei seiner Antwort nicht mehr ganz so tiefenentspannt wie zu Beginn der Sitzung, sondern wie ein Lehrer, der einem begriffsstutzigen Schüler zum fünften Mal erklären muss, dass die Erde wirklich keine Scheibe ist. Der Deal bringe reichlich Kompetenzen zurück nach London, versetzte er, nicht zuletzt in Bezug auf Sozialleistungen für Einwanderer aus EU-Staaten und die Sicherheit des Finanzplatzes in London. Johnson schüttelte amüsiert den Kopf.

Die Gründe für seine Entscheidung gegen die Position des Premiers hatte er am Montag in seiner wöchentlichen Kolumne im Daily Telegraph dargelegt. Er sei Europäer, schrieb er, und er liebe Europa, aber eben nicht das politische Projekt der Europäischen Union.

Die EU-Gegner haben Johnsons Erklärung mit Wohlwollen aufgenommen. Ein Sprecher der Gruppe "Vote Leave", der sich am Wochenende außer Johnson auch sechs Mitglieder von David Camerons Kabinett angeschlossen haben, verbreitet auf Twitter die Botschaft: "Willkommen an Bord, Boris Johnson!" Laut Umfragen ist Johnson nach Cameron der Politiker, der den zweitgrößten Einfluss auf den Ausgang des Referendums haben wird. Das Umfeld des Premiers hatte daher bis zuletzt versucht, ihn für das Lager der EU-Freunde zu gewinnen.

Johnsons Vater hält die Entscheidung für einen schlechten Karriereschritt

Stanley Johnson, Vater des Bürgermeisters und ehemaliger Europa-Abgeordneter, sagte am Montag, er verstehe die Position seines Sohnes, teile sie aber nicht. Er setze sich für den Verbleib in der Union ein. Gefragt, ob sein Sohn die Entscheidung nicht in Wahrheit getroffen habe, um Cameron als Premier zu beerben, falls dieser nach einem verlorenen Referendum zurücktrete, sagte Johnson senior: "Es ist ein Hohn zu sagen, er habe das aus karrieristischen Gründen gemacht. Ich kann mir keinen Schritt vorstellen, der schlechter für die Karriere ist. Boris tritt Anfang Mai als Bürgermeister ab. Falls er danach einen Posten im Kabinett haben wollte, war das sicherlich nicht das richtige Vorgehen."

Cameron schickte am Montag vor seinem eigenen Auftritt im Unterhaus Verteidigungsminister Michael Fallon in die Fernseh- und Radiostudios. Fallon hatte die Aufgabe, möglichst ruhig auf die Aufregung um Boris Johnson zu reagieren. Großbritannien sei sicherer in der EU, sagte er in unzähligen Interviews, er könne das als Verteidigungsminister ja am besten beurteilen. Immer wieder sagte er das und immer in den gleichen Worten, so dass es wirkte wie eine Übung in Hypnose.

Der frühere Finanzminister Nigel Lawson, der die "Vote Leave"-Gruppe anführt, hielt dem donnernd entgegen: Ein Austritt aus der EU sei nicht weniger als Großbritanniens Unabhängigkeitserklärung.

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SZ vom 23.02.2016/ewid
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