Süddeutsche Zeitung

Brexit:Boris Johnson, der Kompromisslose

Die ersten Tage im Amt haben gezeigt: Der neue britische Premier setzt jetzt alles auf eine Karte. Europa wird die Lasten eines No Deal mitzutragen haben.

Kommentar von Cathrin Kahlweit, London

Theresa May hatte etwas mehr als 1100 Tage Zeit, um den Brexit umzusetzen, das Land zu einen und ein paar Reformen zu erzwingen, derentwegen man sich an sie erinnern wird. Nichts davon ist ihr gelungen. Das Ergebnis ihrer Gratwanderung: kein Brexit, keine May.

Boris Johnson hat nur noch 96 Tage, und er will eine Entscheidung - New Deal oder No Deal - sogar in kürzerer Zeit erzwingen. Dieser Herr badet plötzlich nicht mehr gern lau. Er hat sich jahrzehntelang als "Bumbling Boris", als stolpernder Boris, durchgeschlagen; als einer, von dem man nie genau wusste, ob er überhaupt für etwas brannte, und ob das, wofür er heute zu brennen vorgab, morgen noch dasselbe sein würde.

Die ersten Tage im neuen Amt haben aber gezeigt: Er setzt jetzt alles auf eine Karte. Und er hat, schneller als mancher schauen konnte, der für ihn gestimmt hat, jene Wahlversprechen über Bord geworfen, die zum alten, kosmopolitischen, toleranten One-Nation-Tory Boris Johnson passten. Ein Tory für die gesamte Nation - so nennen die Konservativen jene liberal gesinnten Politiker aus ihren Reihen, die sich für ein einiges Großbritannien, gegen englische Überheblichkeit und letztlich auch für enge Verbindungen zu allen Partnern jenseits des Kanals einsetzen. Als so einer wurde Johnson, der zweimal zum Bürgermeister der Multikultimetropole London gewählt worden ist, stets gehandelt. Aber vor 10 Downing Street stand am Mittwochabend ein anderer Mann.

Er hält immer noch flamboyante, mit Übertreibungen, Fantastereien und Selbstüberhebung gespickte Reden. Man muss sich das erst einmal trauen, der Welt zuzurufen, man werde das Vereinigte Königreich in ein "goldenes Zeitalter" führen.

Aber hinter dem geübten Redner, der seine Zuhörer mit Temperament und Leerformeln einlullt, steckt eben auch ein gefährlich schlauer, zum vollen Risiko bereiter Kopf. Der hatte zwar behauptet, nicht nur den Brexit umzusetzen, sondern auch das Land einen und ein Premier für alle Briten sein zu wollen. Was man so sagt im Wahlkampf, wenn man siegen will. Aber jetzt ist alles ganz anders als erhofft, anders als versprochen.

Die Kabinettsumbildung war kein diplomatischer Akt unter Kollegen, sie war eine Machtübernahme. Am Ruder sind jetzt die Brexiteers, denen seit 2016 vorgeworfen wird, sie hätten dem Land eine Suppe einbrockt, die sie sich auszulöffeln weigerten. Sie sitzen nun an allen wichtigen Schalthebeln, besetzen die Stellen von Spindoktoren, Pressechefs, Politikberatern, Kampagnenleitern. Die wichtigsten Köpfe der Vote-Leave -Kampagne, die den EU-Austritt mit zynischem Kalkül beworben haben, arbeiten direkt mit dem Premier zusammen.

Die Fanatischen unter denen, die sich als glühende Austrittsfans verkämpft oder von halbherzigen Remainern zu überzeugten Brexiteers gewandelt haben, gehören jetzt zum Orbit der Regierungszentrale. Boris Johnson hat sich entschieden: Diese Nation heilt man nicht, indem man jene 48 Prozent der Briten mitnimmt (mittlerweile dürften es viel mehr sein), die für den Verbleib in der EU gestimmt haben. Dieses Land überwältigt man mit einem No-Deal-Brexit, mit einem Fait accompli, mit einem Kraftakt. So weit reicht seine Vision: 96 Tage plus einen, den Tag danach.

Dieser Premier will keine Kompromisse

Es ist eine Dystopie, die - ungeachtet aller Beteuerungen - keinen Raum lässt für eine Einigung mit der EU, keinen Raum lässt für eine Annäherung an die empörten Schotten, die den Brexit nie wollten und Johnson verachten. Eine, die wenig Verständnis für die Nordiren aufbringt, bei denen ein harter Brexit die Sehnsucht nach einer Wiedervereinigung mit der Republik beschleunigen wird.

Boris Johnson will No Deal. Und sollte ihn das Parlament mit einem Misstrauensvotum daran hindern und in Neuwahlen zwingen - auch gut aus seiner Sicht, vielleicht sogar besser. Dann kann er sich ein Mandat nicht nur von den Brexitfans bei den Tories und den Wählern der neuen Brexit-Party holen, sondern auch von Europagegnern bei Labour. Boris kann Wahlen gewinnen, sagen die Tories. Auch deshalb haben sie ihn gekürt.

Wenn ihm das Parlament in den Arm fällt, wird das den Heldenstatus nur stärken, an dem er arbeitet. "Proletarische Revolutionen ... schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen: Hic Rhodus, hic salta!", schrieb einst Karl Marx. Das Zitat könnte man auf Johnson und den Brexit anwenden: Er will der Mann sein, der in dieser historischen Situation die Revolution anführt, er will das Land an den Rand des Abgrunds treiben und von dort in ein "goldenes Zeitalter", das der Mühen Lohn sein wird.

Theresa May ist immer vorgeworfen worden, dass ihre Politik der Ambiguität und der Unterwerfung unter die unvereinbaren Forderungen ihrer diversen Gegner nirgendwohin geführt hat. Boris Johnson mag zwar nur ein Mandat von einer winzigen Minderheit aller Briten haben, aber ihm ist das egal. Er hat 2016, nach kurzem Zweifeln, für Leave Wahlkampf gemacht, er hat jetzt erneut Leave versprochen. Ihm reicht das Mandat der revolutionären Minderheit, die er um sich geschart hat und die an ihn glaubt. Vielleicht glaubt er sogar selbst daran. Johnson ist, so gesehen, zwar ein Hasardeur, aber kein Populist. Er ist jetzt Alexander Boris de Pfeffel Lenin.

Die EU wird dieser Entwicklung wenig entgegenzusetzen haben. Wer, wie Johnson, den Backstop, die Notfalllösung für Nordirland, als antidemokratisch bezeichnet, will keine Kompromisse. Der will Sieger sein, und sei es nur für kurze Zeit. Europa wird die Lasten mitzutragen haben, die Johnson den Briten mit einem No Deal auferlegt. Dass nach den 96 Tagen die Sonne über Großbritannien besonders gülden scheinen wird, das glaube, wer will.

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Quelle:
SZ vom 27.07.2019/lalse
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