Großbritannien:Im Schatten von Corona

Opposition Leader Keir Starmer Holds 'Call Keir' Meeting For Public Questions On Coronavirus

Als neuer Vorsitzender der Sozialdemokraten ersetzte Keir Starmer alle Loyalisten seines Vorgängers Jeremy Corbyn mit eigenen Leuten.

(Foto: Leon Neal/Getty Images)

Keir Starmer, erst seit Anfang April im Amt, will sich als neuer Vorsitzender der Labour-Partei profilieren. Doch vielmehr halten die steigenden Covid-19-Todeszahlen das Land in Atem.

Von Cathrin Kahlweit, London

Üblicherweise wird ein politischer Neustart nach 100 Tagen bewertet, aber "üblich" ist in der Corona-Krise nicht mehr sehr vieles. Keir Starmer, seit Anfang April neuer Chef der Labour-Partei, muss sich daher schon nach vier Wochen fragen lassen, was er bisher richtig oder falsch gemacht hat. Und was er anders gemacht hätte als die britische Regierung, die angesichts dramatisch hoher Covid-19-Todeszahlen zunehmend unter Druck gerät. Am Dienstag war bekannt geworden, dass Großbritannien bei den Corona-Toten mittlerweile vor Italien und damit vor allen europäischen Staaten liegt. Nur die USA verzeichnen derzeit mehr Tote durch die Infektionskrankheit.

Aber Starmer ist ein vorsichtiger Mann. Er weiß, dass es nicht gut ankommt, wenn man als neuer Oppositionschef in einer dramatischen Lage so tut, als wenn man alles besser wüsste - und besser gemacht hätte. Er war daher vom ersten Tag an einen anderen Weg gegangen, hatte Boris Johnson, im Prinzip, seine Unterstützung angeboten und einen "nationalen Konsens" gefordert. Schon in seiner Antrittsrede am 4. April forderte er zudem einen "langfristigen Ausstiegsplan", eine Exitstrategie aus dem Lockdown, die sachlich begründet und mit Wissenschaft, Wirtschaft und Gewerkschaften koordiniert sei - und mit der Labour Party natürlich sowieso.

Aber dann wurde der Premierminister schwer krank, lag mit Covid-19 in der Klinik, erholte sich nur mühsam, und von irgendeiner Strategie war in dieser Zeit, in der das Kabinett kaum relevante Entscheidungen traf, keine Rede. Keine Rede konnte naturgemäß auch von einer direkten Auseinandersetzung zwischen Premier und Oppositionschef sein, wie sie die wöchentlichen Fragen an den Premierminister im Unterhaus ermöglichen. Üblicherweise. Aber auch die waren wochenlang ausgefallen, weil das Parlament nicht tagte, und vergangene Woche war die Konfrontation abgesagt worden, weil Johnson statt ins Unterhaus wieder in die Klinik musste. Diesmal zur Geburt seines Sohns Wilfred.

Für den neuen Mann an der Spitze der größten linken Partei Europas ist das bitter. Seine Wahl hätte in normalen Zeiten tagelang die Schlagzeilen dominiert und wäre eine gute Chance für Labour gewesen, sich zu profilieren, die Regierung herauszufordern und zu beweisen, dass mit den Sozialisten immer noch zu rechnen ist. Aber Corona überlagerte alles.

Sein Vorgänger hatte eine von Antisemitismus und Dogmatismus zerquälte Partei hinterlassen

An diesem Mittwoch nun war die Gelegenheit da: der Premier im Unterhaus - und unter Druck. Starmer, der mal Chef der englischen Staatsanwaltschaften war, konfrontierte den ungewohnt milden und bisweilen regelrecht um Worte verlegenen Boris Johnson professionell mit den Fehlern der Regierung in den vergangenen Wochen, ohne jemals unfreundlich zu werden. Beantwortete sich die Fragen selbst, die Johnson nicht beantwortete, legte Beweise vor, wo der Premier sich herausredete, führte ihn aufs Glatteis.

Wie, um Himmels Willen, Johnson von einem "Erfolg" reden könne angesichts der im internationalen Vergleich so schlechten Zahlen? Man könne die Zahlen nicht vergleichen, sagte der Premier. Worauf Starmer die vergleichenden Charts hochhielt, welche die Regierung in ihren Pressekonferenzen vorlegt. Ob es denn stimme, dass das Erfolgsmodell anderer Länder zu Beginn der Krise, Infizierte zu testen und Kontaktpersonen zu isolieren, daran gescheitert sei, dass Großbritannien schlicht zu wenig Tests hatte? Johnson antwortete mit einem gewundenen Satz, der in der steilen These mündete, es könne besser sein, mit vielen Tests aus einer solchen Krise heraus- als hineinzugehen. Starmer: "Also bestätigen Sie, dass es ein Kapazitätsproblem gab." Warum in Altenheimen so viele Menschen sterben müssten, weil es immer noch nicht genügend Tests und Schutzkleidung gebe? Johnson beteuerte, die Zahl der Toten gehe auch in den Alten- und Pflegeheimen zurück. Starmer hielt eine Statistik der Regierung hoch und belehrte den Premier, die offiziellen Zahlen belegten das Gegenteil. Starmer schlug sich also gut. Aber die Schlagzeilen des Tages machte Johnson. Man strebe 200 000 Tests bis zum Monatsende an - und werde über Lockerungen reden. Vielleicht sei es schon ab kommendem Montag soweit.

Der neue Labour-Chef wird also auf seine Chance warten müssen, sich selbst als Alternative zum Premierminister und seine Partei als fit für Downing Street zu präsentieren. Immerhin nutzt er die Zeit, um das Haus aufzuräumen, oder besser: seine Partei. Sein Vorgänger, Jeremy Corbyn, hatte eine fraktionierte, von Antisemitismus und Dogmatismus zerquälte Partei hinterlassen, die in der Parlamentswahl von den Tories vernichtend geschlagen worden war. Starmer, moderater Linker mit viel Erfahrung, hatte die Urwahl mit deutlichem Vorsprung gewonnen. Er tauschte umgehend das gesamte Schattenkabinett aus und ersetzte alle Corbyn-Loyalisten mit eigenen Leuten. Vor wenigen Tagen trat die noch von Corbyn eingesetzte Generalsekretärin zurück; Starmer hat bei der Neuorganisation des Apparats nun freie Fahrt.

Weniger gut lief der Versuch, ein leidiges Dauerthema loszuwerden: Der Neue hatte angekündigt, die Partei mit den jüdischen Gemeinden aussöhnen und gegen Antisemiten hart durchgreifen zu wollen. Als Danaergeschenk wurde daraufhin, mutmaßlich von Corbyn-Anhängern, ein interner Bericht über den Umgang der früheren Parteispitze mit Antisemitismus-Vorwürfen öffentlich gemacht. Er zeigt, wie scharf Corbyn-Gegner über Jahre Front machten gegen die Führung; der Vorwurf der Obstruktion der Parteirechten wurde laut. Zur Befriedung trug das nicht bei, eine unabhängige Kommission soll nun die ganze Causa endlich aufarbeiten. Zumindest in diesem Punkt ist der Neuanfang gescheitert.

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